Flucht durch die Leere

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Das kindlich wirkende Mädchen flieht zu Beginn des 17. Jahrhunderts aus einem britischen Fort an der Chesapeake Bay in Nordamerika. Vom Hunger gezeichnet, will sie Krankheit, Rachefeldzügen gequälter Ureinwohner gegen ihre weißen Peiniger, Leibeigenschaft entkommen, sowie sexueller Gewalt, die sie auf jeder Station ihres kurzen Lebens erlitten hat. Mit vier Jahren war sie als Findelkind während einer Pestepidemie in Europa von ihrer Herrin aus einem britischen Armenhaus gekauft worden. Nach der Auswanderung der Familie diente sie in Nordamerika als Kindermädchen der behinderten Bessie. Obwohl Lamentatio Nemal, wie sie im Armenhaus getauft wurde, nicht lesen kann, hat sie sich beim Blick auf eine Landkarte gemerkt, dass südlich des Forts Spanier das Land beherrschen und dass ein leeres Land durchquert werden muss, um im Norden auf Franzosen zu treffen, die sie für seriös hält. Sie hält die Natur für belebt, nimmt sogar Antworten auf ihre Fragen wahr und wird sich stets verfolgt fühlen. Mit religiösen Geschichten aufgewachsen, kennt sie allein das Warten auf einen Erlöser, eine Hoffnung, über die man sich angesichts ihrer Gewalterfahrungen nur wundern kann.

Offenbar ist die Flüchtende so groß gewachsen, dass sie ihre Schätze (gestohlene Stiefel, Axt, Messer, Decke in einem Sack) durch die vereiste Landschaft tragen kann. Sie wird täglich mit Herausforderungen konfrontiert, auf die sie so wenig vorbereitet sein kann wie die übrigen Weißen im Fort. Ihr bemerkenswertes Talent, elementares Wissen aufzuschnappen, ohne es unbedingt zu verstehen, hilft ihr in der Wildnis zu überleben.

Eine allwissende Erzählerstimme spannt Lauren Groffs Leser:innen auf die Folter, indem sie episodenhaft von der Überfahrt auf dem Auswandererschiff erzählt und vom Leben im Pfarrhaushalt, in den die „Herrin“ inzwischen geheiratet hat. Begegnungen mit Wölfen und Bären beim Überwinden der unbarmherzigen Landschaft lassen um das Überleben des Mädchens bangen. Neben der Wanderung einer ungewöhnlich couragierten Pionierin hat mich meine Neugier an das Buch gefesselt, was die altertümlich tönende Erzählerstimme über ihr Heranwachsen einzubringen hat. Mit der ungewöhnlichen Stärke der Flüchtenden vor Augen war ich umso erstaunter über ihre immer noch spürbare Religiosität.

Ein Roman in grandioser Landschaft, mit schwer erträglichen Gewaltszenen.