Update des amerikanischen Gründungsmythos

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alasca Avatar

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Die Puritaner flohen aus der englischen Unterdrückung in die neue Welt, errichteten dort ein Paradies der Freiheit und ein Bollwerk des rechten Glaubens und brachten die Zivilisation zu den Wilden. So der Gründungsmythos der USA. Tatsächlich hätte Jamestown, die Keimzelle Amerikas, beinahe nicht überlebt. Die neue Kolonie krankte an Hybris, dem unerwartet harten Klima und umfassender Inkompetenz. Folglich sind Lauren Groffs Pilger „die gierigen Söhne des Adels, die keine Moral kannten und bereitwillig morden würden, um Herren über mehr Land und Vermögen als ihre ältesten Brüder zu werden.“ Amerika, das Land der ehrgeizigen Zweitgeborenen.

Mitten im Hungerwinter eines ungenannten Forts im Jahr 1610 – die meisten Siedler sind bereits krank, verhungert oder kurz davor - flüchtet eine junge Frau aus dem Fort in die umgebende Wildnis. Ihr Ziel ist der französische Norden. Sie fürchtet die Wildnis und die Ureinwohner, aber sie hat keine Wahl, „…denn was sie getan hatte, konnte nicht ungestraft bleiben.“ Das Rätsel um den Grund ihrer Flucht wird erst am Ende des Romans aufgelöst.

„Das Mädchen“ ist vollkommen unwissend, was das Überleben in der Natur angeht. Aber ihr hartes Leben als Findelkind hat sie zur guten Beobachterin gemacht; sie ist wach und in unwahrscheinlichem Maß erfinderisch. Das erste Drittel des Romans lässt ein gutes Ende möglich scheinen – wäre da nicht der allwissende Erzähler, der nüchtern ihre Fehler kommentiert. Das ist zunehmend beklemmend zu lesen.

Das Mädchen rennt und rennt und rennt. Sie hat Hunger. Sie hat Angst. Sie friert. REPEAT. Die Wiederholung dieses Musters wäre ermüdend, wäre da nicht Groffs Sprache, die von Duktus und Ton biblisch anmutet, so, als würde man aus einem alten Gebetbuch lesen. Ihre starke Rhythmik entwickelt einen unglaublichen Sog. Die ersten 100 Seiten habe ich – gefühlt ohne zu atmen – in einem Rutsch gelesen. Groffs Sprachmächtigkeit ist überwältigend - wenn sie die revoltierende Verdauung des Mädchens in unmissverständlichen Worten beschreibt, vor allem aber, wenn sie das Naturerleben des Mädchens schildert:

„Später von einer Anhöhe aus sah sie im trüben, silbrigen Licht, wie der Wind den leichteren Schnee emporfegte und daraus eine glänzende Stadt mit Dächern und Giebeln und einem Kirchturm baute, ja, sogar der Rauch der Feuer kräuselte sich aus den Schornsteinen fröhlich gen Himmel [..].“

Was den repetitiven Fluchtmarathon aufbricht, sind außerdem die Flashbacks des Mädchens in seine Zeit in London und ihre Reflektionen, verstärkt durch ihr Hungerdelirium. „… die Wildnis, ihre Angst und ihre tiefen Verluste“ erzeugen so etwas wie Selbstverlust und eine bisher ungekannte Freiheit des Denkens. Die intensive Begegnung mit der Natur lässt die Angst davor schwinden und führt zu Transzendenzerfahrungen, deren Beschreibung zu den schönsten Passagen des Romans gehört.

„Doch jetzt spürte sie unter sich wieder die Erde, die sich drehte, und wusste, dass sie ein Teil davon war, wesentlich und groß genug. Eine ganze Weile sah sie sich in Gottes Hand liegen. Mitten in seiner Handfläche, und die Nacht war seine schützend um sie gewölbten Finger, die das gleißende Licht der Ewigkeit abhielten.“

So lange die Reflektionen des Mädchens so naiv und fromm sind, wie es von einer analphabetischen, evangelikalen Pilgerin erwartet werden kann, sind sie glaubwürdig. Leider (aus meiner Sicht eine große Schwäche des Romans) lässt Groff das Mädchen einen philosophischen Wandel zu sehr heutigem, linksliberalem, post-kolonialem Denken mitsamt Zivilisationskritik durchlaufen, den ich fast schon absurd fand. Sie denkt über Tierrechte nach und wird von der Pantheistin zur Nihilistin: „Keine Erlösung, denn Gott, den Erlöser, gab es nicht. Ein Nichts, ein Abszess, ein riesiges, wimmelndes Loch.“ Über ihre Landsleute denkt sie „Sie werden sich alles und jeden untertan machen, und wenn dann nichts mehr übrig ist, werden sie sich gegenseitig zerfleischen.“ Sie versteht, dass …“die Menschen ihres Volkes geglaubt [hatten], sie würden diesem Ort und den Menschen hier erstmals Namen geben, und in diesem Glauben war es ihnen nur natürlich erschienen, dass sie die Herrscher über dieses Land waren, auch wenn […] die Menschen hier sicherlich eigene Namen für alle Dinge hatten.“

Wer erwartet, dass es irgendwann einen rettenden Kontakt zu den Powhatan gibt, wird enttäuscht: Trotz neuer Offenheit sitzt die Angst vor ihnen zu tief; das Mädchen meidet sie und die Powhatan lassen sie in Ruhe.

„Die weite Wildnis“ variiert ein bekanntes Thema, angefangen bei der griechischen Sage über Atalanta bis zu Gil Adamsons „The Outlander“ oder Bonnie Jo Campbell´s „Stromschnellen“. Immer ist das Thema der Gegensatz zwischen Wildnis und Zivilisation, Frau und Patriarchat, innere und äußere Feinde. Immer stellt sich heraus, dass die Zivilisation der größere Feind ist, patriarchale Strukturen gefährlicher als Berglöwen, die Welt im Kopf hinderlicher als die Hindernisse in der Natur.

Groffs Variation dieses Themas fand ich ebenso luzide wie brutal und ebenso anmaßend wie weise. Aus meiner Sicht trotz kleiner Längen und philosophischem Overkill absolut lesenswert.