Romane - welch wunderschöne Erfindung

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buecherfan.wit Avatar

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In Milena Agus´ neuem Roman “Die Welt auf dem Kopf” erzählt eine namenlose Ich-Erzählerin von ihrem Leben in einem alten Patrizierhaus in einem ärmlichen Viertel der Inselhauptstadt Cagliari. Sie studiert Literaturwissenschaft und schreibt Gedichte. Unter ihr wohnt ihre Freundin, die herzkranke Anna mit ihrer Tochter Natascha in einer fast fensterlosen ehemaligen Dienstbotenwohnung. Anna verdient ihren Lebensunterhalt mit drei Putzjobs. Über der Studentin bewohnt de retwas weltfremde Violinist Mr. Johnson eine ganze Etage. Seine Frau, eine reiche Sardin, hat ihn kürzlich verlassen, nachdem er seine glanzvolle Karriere mutwillig beendet hat und nun auf Kreuzfahrtschiffen spielt. Mr. Johnson benötigt eine Haushälterin, und die Studentin vermittelt ihm Anna. Anna liebt die Licht durchflutete Wohnung in der oberen Etage mit ihrer schönen Aussicht. Sie verliebt sich in Mr. Johnson und zieht bei ihm ein.

In zahlreichen Rückblenden erzählt die Protagonistin von ihren schwierigen Familienverhältnissen. Als sie zehn Jahre alt war, hat sich der Vater umgebracht, und die Mutter verfiel vollends dem Wahnsinn. Tante und Onkel wurden Vormund des Mädchens, aber sie gehen lieblos und distanziert mit ihr um, weil solche Vorkommnisse in einer Familie als Schande gelten. Die beiden Großelternpaare brechen den Kontakt zur Mutter ab. Das Kind wird zur Außenseiterin in der Schule und im Dorf, weil die Leute fürchten, sein Schicksal sei ansteckend. Die Lehrerin nennt das Mädchen “Kleiner stummer Buchstabe”, weil sie nur noch das Nötigste spricht. Sie sucht Zuflucht bei den Büchern und beobachtet die Menschen, um die Welt zu verstehen.

Als Studentin lebt sie nun Jahre später in der einst von den Großeltern mütterlicherseits erworbenen Wohnung, in der sie die einzigen glücklichen Momente seit dem Unglück verbracht hat, wenn sie sich in den Ferien mit den Verwandten dort aufhielt. Im Roman wird beschrieben, wie die Hausgemeinschaft allmählich zusammenwächst und für die Studentin zu einer zweiten, wichtigeren Familie wird. Mr. Johnsons Sohn Johnson Junior zieht mit seinem Sohn Giovannino bei seinem Vater ein. Die Studentin verliebt sich in Johnson Junior und liebt seinen Sohn wie ein eigenes Kind. Als Mrs. Johnson zurückkehrt, zieht Anna wieder in ihre eigene Wohnung. Für die Erzählerin vertritt Anna die Mutter, die Johnsons werden zu Ersatzgroßeltern und Natascha zu ihrer Schwester. Alle stehen einander sehr nahe.

Milena Agus hat eine relativ ereignisarme, aber sehr warmherzige Geschichte über Freundschaft, Liebe und Eifersucht, über Nähe und Distanz, über Verlust und Neubeginn geschrieben und entwirft dabei durch Landschaftsbeschreibungen und zahlreiche Einschübe in sardischer Sprache ein typisches Ambiente. Es gibt ausgesprochen witzige Begebenheiten, zum Beispiel wenn sich die 65jährige Anna Reizwäsche kauft und sie auch trägt, wenn der Verlobte Natascha in ihrem Eifersuchtstraum Popel auf das T-Shirt schnippt oder Anna aus Rezepten der Haute Cuisine vegetarische Rezepte macht, indem sie die entscheidende Zutat weglässt: So fehlt bei den gegrillten Lachsschnitten mit Äpfeln, Rüben und Wirsing am Ende der Lachs, und vom Wildhasenragout mit Birnen bleiben nur die Birnen. Agus gelingt eine raffinierte Erzählstruktur, indem sie die Ich-Erzählerin zur Autorin des vorliegenden Romans werden lässt und damit eine Fiktion in der Fiktion schafft. Die Protagonistin schreibt eine Liebesgeschichte mit Happy End für die todkranke Anna, damit der letzte Teil ihres Lebens der schönste wird. Welchen Stellenwert Literatur für Milena Agus hat, zeigt ein Zitat gegen Ende des Romans: “…, die Menschen haben die Romane erfunden, so wie sie vielleicht auch den lieben Gott erfunden haben, aber es sind zwei wunderschöne Erfindungen,…” (S. 159). Diese Einschätzung teilt auch der beglückte Leser.