Schönes Debüt

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dj79 Avatar

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„Die Welt in allen Farben“ ist ein Roman, der mit sehr wenigen Charakteren auskommt. Die beiden Protagonistinnen Nova und Kate haben durch ihre Lebensgeschichte „nur“ ein kleines soziales Umfeld. Trotzdem hat Joe Heap ein gehaltvolles Debüt hingelegt. Er setzt sehr intensiv mit dem Leben, den alltäglichen Problemen und den Gefühlen der beiden auseinander. Novas und Kates Gefühlswelt wird hauptsächlich durch die Handlungen, Aktionen und (Über-)Reaktionen, auch dem ein oder anderen „Ausraster“ der beiden zum Leser transportiert.

Beide Persönlichkeiten müssen ihr Leben fernab von normalen Umständen meistern. Nova ist von Geburt an blind, soll jetzt durch eine Operation erstmalig Sehkraft bekommen. In ihrem blinden Leben ist sie jedoch perfekt eingerichtet und kommt ohne fremde Hilfe zurecht. Sie kann sogar als Dolmetscherin arbeiten. Kate ist eine kontaktscheue Persönlichkeit, die ein eher unterwürfiges Leben führt. Jeder Versuch, sich zu emanzipieren, wird bestraft. So kommt es zu einem „Unfall“, der Kate in dieselbe Station im Krankenhaus befördert, in der sich Nova nach ihrer Augen-OP befindet. Ich konnte für beide Charaktere Sympathie empfinden, wobei meine Zuneigung zu Nova etwas stärker ausgeprägt ist. Trotz ihrer vielfältigen Abweichung von „normal“ (was die Allgemeinheit halt so als normal empfindet) meistert sie ihr Leben clever, tritt Herausforderungen mutig gegenüber, setzt sich durch. Kate war mir etwas zu anpassungswillig. Für mich ist es immer schwer nachvollziehbar, wenn jemand über einen langen Zeitraum hinweg seine eigenen Interessen zurücksteckt, um möglichst nicht anzuecken und möglichst allen oder ausgewählten Leuten zu gefallen.

Mit dem Erzählen dieser berührenden Geschichte hat Joe Heap allerdings auch mein Zentrum für Selbstreflektion angesprochen. Als Sehender ist es einfach sich zu entscheiden, ob man sehen will oder nicht. Man würde auch vieles tun, um einen drohenden Verlust des Sehens zu vermeiden, weil wir uns einfach nicht vorstellen können, dass auch ein blindes Leben ein schönen Leben sein kann. Dass diese Überlegungen umgekehrt genauso ablaufen könnten, habe ich nicht einmal in Erwägung gezogen. Genauso ist es leicht zu behaupten, sich im Fall des Falles einer potentiellen Gewalt in der Familie entziehen zu wollen und zu können. Aber so einfach ist es eben doch nicht. Diese Ansprache des Romans an das eigene Gewissen, die Einnahme einer anderen Perspektive hat mir daran am besten gefallen.

Abzüge in der Bewertung nehme ich vor, weil Nova für mich etwas zu viele „Normalitätsabweichungen“ auf sich vereint. Dadurch wird in meinen Augen nicht mehr Wirkung erzielt, eher leidet die Glaubwürdigkeit. Zudem ist die Handlung wenig überraschend, manches Ereignis war für mich leicht vorherzusehen. Trotzdem hat mir „Die Welt in allen Farben“ gut gefallen.