Eine Familie voller Geheimnisse

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naraya Avatar

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Dolors ist 85 Jahre alt, als sie nach einem Schlaganfall von einem Tag auf den anderen die Sprache verliert. Von ihrer Familie dazu verdammt, den ganzen Tag stumm in ihrem Sessel in der Ecke zu sitzen, bekommt die alte Dame noch viel mehr um sich herum mit, als alle denken. Denn Dolors kann zwar nicht mehr sprechen, aber taub ist sie noch lange nicht! Und so lauscht sie angestrengt jedem noch so kleinen Familiengeheimnis nach.

Die Handlung von Blanca Busquets erstem in Deutschland erschienenen Roman ist schnell und in wenigen Worten zusammengefasst. Doch noch genauer sagt eigentlich der (wirklich gute) deutsche Titel des Romanes aus, worum es wirklich geht: „Die Woll-Lust der Maria Dolors“, also zu einen, die unbändige Lust, auch mit starren, alten Fingern noch einmal einen wunderschönen Pullover für ihre  Enkelin zu stricken. Die einzelnen Kapitel des Romans beziehen sich daher auch alle auf den Pullover bzw. das Strick-Thema und wie Dolors Pullover nach und nach Form annimmt, so werden ebenso Stück für Stück die Geheimnisse der alten Dame freigelegt. Denn Dolors war keineswegs nur brave Hausfrau, Mutter und Großmutter, sonder eine willensstarke, geradezu emanzipierte Person, die ihren Weg durchs Leben mit erhobenem Haupte gegangen ist. Dass dabei auch oft genug Menschen auf der Strecke blieben, scheint Dolors jedoch nicht gerade mit Scham zu erfüllen.

Der Roman wird die meiste Zeit aus ihrer Perspektive erzählt. Die Sprache und der Aufbau der einzelnen Kapitel ist dabei sehr authentisch, denn – wie es sich für eine ältere Dame gehört – springt Dolors munter zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart hin und her, so dass es dem Leser teilweise schwerfällt, ihren Gedankengängen zu folgen. Viele Andeutungen lösen sich erst an späterer Stelle auf. Dass Männer dabei stets eine wichtige Rolle in ihrem Leben gespielt haben, erklärt die zweite Bedeutung des Wortes „Wolllust“ im Titel. Denn da ist zum einen Antoni, Dolors erste und große Liebe und zum anderen Eduard, ihr Ehemann. Gezwungen, sich zwischen Liebe und Mittellosigkeit auf der einen und Lieblosigkeit und Reichtum auf der anderen Seite zu entscheiden, wählte Dolors die letzteren beiden und endet schließlich dennoch allein und stumm in ihrem Sessel.

Durch Dolors Augen betrachtet wirken die meistens Figuren im Roman recht unsympathisch, denn eigentlich hat sie an jedem Familienmitglied etwas auszusetzen. Sei es die Andersartigkeit ihrer Tochter Teresa, die Unterwürfigkeit ihrer zweiten Tochter Leonor, die Blasiertheit ihres Schwiegersohnes Jofre, die Naivität ihrer Enkelin Sandra oder die Emotionalität ihrer Putzfrau. Es scheint, als stünde Dolors über ihnen allen, dabei betont sie doch selbst immerzu, nie fehlerfrei gewesen zu sein. Einzig und allein ihren Enkel Martí scheint sie zu vergöttern, erkennt er doch als einziger, dass seine Oma zwar stumm, aber deshalb nicht weniger intelligent ist. Leider kann der Leser seinen negavtiven Eindruck von den handelnden Personen auch am Ende der Handlung nicht revidieren, das letzte Kapitel verstärkt ihn sogar noch.

Blanca Busquet widmet ihren Roman allen Frauen, die „keine Unschuldslämmer sind“, doch wenn man den Roman bis zum Ende liest, muss man unweigerlich feststellen, dass niemand in dieser Familie unschuldig ist. Bereits im Laufe der ersten Kapitel taucht eine lange Liste an Themen auf, die sich mit dem letzten Kapitel, in dem die Autorin jede ihrer Figuren noch einmal selbst Stellung beziehen lässt, nur noch weiter fortsetzt. Grundsätzlich finde ich es gut, wenn in der Literatur auch unbequeme Themen angeschnitten werden, aber Magersucht, Homosexualität, Seitensprünge, Sex mit Minderjährigen, Kinderpornografie und Mord – das ist doch wohl etwas zu viel des Guten. Hier wollte die Autorin eindeutig zu viel.

Dennoch ist „Die Woll-Lust der Maria Dolors“ ein durchaus unterhaltsamer Roman über eine Frau, die ihr Leben so lebte, wie sie es gerne wollte, ohne sich dabei von anderen beirren zu lassen. Ich denke, so mancher könnte von Dolors in dieser Hinsicht etwas lernen…