Lust auf Wolle und Schokolade

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buecherfan.wit Avatar

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Nach einem Schlaganfall ist die 85jährige Maria Dolors stumm und kann nicht mehr allein für sich sorgen. Sie lebt bei ihrer jüngeren Tochter Leonor. Zur Familie gehören Schwiegersohn Jofre und die Enkel Sandra und Martí. Maria Dolors kann nicht mehr sprechen, aber sie hört und sieht alles, erfährt fast alle Geheimnisse der Familie. Meistens sitzt sie in ihrem Sessel. Sie hat beschlossen, für die Enkelin einen wunderschönen Pullover zu stricken.

Der Fortschritt bei der Handarbeit gibt dem Roman die Struktur und liefert die Kapitelüberschriften. Während des Strickens beobachtet Maria Dolors die Familienmitglieder. Ereignisse in der Gegenwart lösen bei ihr Erinnerungen aus an die eigene Jugend, ihre große Liebe Antoni, die Ehe mit dem ungeliebten Eduard, der die entehrte Maria Dolors nur heiratet, weil er nach einer unpassenden Affaire mit einem Dienstmädchen selbst keine akzeptable Partie für die jungen Damen der besseren Gesellschaft mehr ist. Maria Dolors vergleicht ihre eigene Situation, ihre Erziehung im Kloster und ihre Jugend mit den Gegebenheiten der neuen Zeit. Sie versteht die Probleme ihrer Enkel besser als Leonor und Jofre und bedauert unendlich, nicht raten und helfen zu können. Das innigste Verhältnis hat sie zu ihrem Enkel Martí, der sie am besten versteht. Zwischen den Exkursen in die Vergangenheit und der Beschäftigung mit der Gegenwart gibt es immer wieder Einzelheiten zur Herstellung des Pullovers: Zu- und Abnehmen, Farben und Muster, die Schwierigkeit, für die magersüchtige Sandra die richtige Größe zu finden...

Bis auf den Epilog wird der Roman aus der Perspektive der Maria Dolors erzählt, d.h. dem Leser werden ihre Gedanken, Empfindungen und Erinnerungen so präsentiert, wie sie ihr in den Sinn kommen: ungefiltert, unstrukturiert, sprunghaft. Es handelt sich um einen langen inneren Monolog, der ihre Geschichte ebenso offenbart wie die Geschehnisse in der Erzählgegenwart, soweit Maria Dolors sie wahrnimmt. Nicht nur alle Familienmitglieder haben Geheimnisse, auch die alte Dame hat eine dunkle Vergangenheit, von der nur die Freundin, das ehemalige Dienstmädchen Mireia weiß. Man kann ohne Übertreibung sagen, dass in dieser Familie so viel passiert wie in einer durchschnittlichen Seifenoper: alle Probleme, alle Verwicklungen, alle Schicksalsschläge widerfahren gehäuft einer kleinen Gruppe von Menschen.

In einem Epilog wechselt die Perspektive, und die Familienmitglieder - die Töchter Leonor und Teresa, der Schwiegersohn Jofre, die Enkel Sandra und Martí sowie die Freundin Mireia und die verhasste Haushaltshilfe Fuensanta - äußern sich über Maria Dolors und zeigen, wie sie zu ihr stehen. Dabei stellt sich heraus, dass nur wenige sie wirklich kannten und schätzten, und gerade auch Menschen aus ihrem engsten Umfeld - Tochter Leonor, Schwiegersohn Jofre - überhaupt nichts von ihr wussten und sie bis zum Schluss für ziemlich beschränkt und taub hielten.

Blanca Busquets hat einen schönen, anrührenden Roman geschrieben, in dem es ihr besonders gut gelungen ist, in ihrer Erzählweise - dem inneren Monolog - die Abfolge von Gedanken und Empfindungen zu imitieren, wie sie in ihrer typischen Sprunghaftigkeit der Protagonistin durch den Kopf gehen.