Woll-Lust oder eher -Frust?

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Leerer Stern Leerer Stern
klusi Avatar

Von

 

Seit sie einen Schlaganfall erlitten hat, lebt die 86-jährige Maria Dolors bei ihrer jüngeren Tochter und deren Familie, denn sie kann sich nicht mehr selbst versorgen. Sie kann nicht mehr sprechen und hat mit dem Laufen Probleme, und nur weil sie sich nicht mehr mit Worten ausdrücken kann, sind einige Familienmitglieder der Meinung, sie wäre auch taub und würde nicht mehr mitbekommen, was um sie herum geschieht. Aber dem ist ganz und gar nicht so. Während sie in ihrem Sessel sitzt und an einem Pullover für ihre 16-jährige Enkelin strickt, hängt sie ihren Gedanken nach. Es sind zum Teil schöne, lustige, aber auch tragische Erinnerungen, die ihr einfallen. Sie lässt vor ihrem inneren Auge die bewegte Vergangenheit noch einmal ablaufen, und sie ergeht sich in philosophischen Betrachtungen, denn immerhin hat sie früher einmal Philosophie studiert.  Nebenbei erfährt sie so mancherlei, was in der Familie vorgeht. Das ist nicht gerade wenig, denn alle haben ein gut gehütetes Geheimnis, auch sie selbst. Manches ist überraschend für die alte Dame, vielleicht sogar ein wenig schockierend. Da kann es schon einmal passieren, dass Dolors vor Schreck eine Masche von der Stricknadel fallen lässt. Jedoch wächst das schöne, kuschelige Strickstück, trotz mehrerer kleiner Rückschläge, langsam aber stetig, und Dolors hat noch viel vor, denn auch für den Enkelsohn möchte sie gerne einen Pullover stricken.

Bis auf den Epilog ist das ganze Buch aus der Sicht von Maria Dolors geschrieben. Die Idee, die dem Roman zugrunde liegt, ist sehr schön. Beim Lesen musste ich öfter unwillkürlich schmunzeln, denn Dolors hat eine scharfe Beobachtungsgabe und ihre ganz eigene, oft humorvolle Sichtweise der Dinge. Bei der Betrachtung ihrer Mitmenschen zeigt sie sich erstaunlich tolerant und weise. Insgesamt kann ich also sagen, dass mir die Geschichte und auch der Schreibstil gut gefallen haben. Leider muss ich aber auch einen Minuspunkt anmerken, denn bei den Problemen, die Dolors’ Familie beschäftigen, wurde meiner Meinung nach viel zuviel in die Handlung gepackt. Hier nur eine kleine Auswahl: Magersucht und Bulimie, Verführung Minderjähriger, sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz, Ehebruch (in mehreren Fällen), Homosexualität (ebenfalls in mehreren Fällen)… Die Liste könnte man noch fortsetzen, sie erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Ich möchte hier bewusst nicht alles aufzählen, da sich einiges erst ziemlich am Ende des Buches herausstellt, und ich würde sonst unweigerlich zu viel verraten. Diese übertriebene Ansammlung von Extremsituationen, in einer relativ kleinen, überschaubaren  und „normalen“ Familie, das wirkte auf mich absolut unglaubwürdig und hat meine Lesefreude leider etwas getrübt. 

 

Liebe Grüße Klusi