Wunderbuch

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singstar72 Avatar

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Zur Zeit scheint es ja eine Art Mode zu sein, Romane über deutsche Geschichte oder deutsche Lebensläufe zu schreiben. Dennoch bin ich aufmerksam geworden, als die „Wunderfrauen“ beworben wurden. Nur über Frauen! Und auch noch über eine Frauenfreundschaft in schwieriger Zeit. Auch die Leseprobe hatte mich begeistert, vor allem ob ihres überbordenden Humors. Schwups, war das Buch mein. Und ich wurde überhaupt nicht enttäuscht.

Wichtig zu wissen ist, dass das Buch der erste Teil einer Trilogie ist, und dies auch von Anfang an so geplant war. Das merkt man dem Buch an! Denn am Ende dieses ersten Teils ist bei weitem nicht alles sprichwörtlicher Friede, Freude und Eierkuchen. Auch die Freundschaften unter den Frauen sind teilweise gerade erst dabei, sich zu entwickeln. Und es bleiben für den Leser wichtige Fragen offen, was für mich aber gerade den Reiz ausmachte.

Es geht um vier Frauen, die jeweils exemplarisch für einen typischen Lebenslauf dieser Zeit stehen (für diese Beobachtung danke ich sehr einer lieben Mitleserin!). Da wäre Luise, auf einem Bauernhof aufgewachsen, aber mit Ambitionen. Sie möchte einen eigenen Laden eröffnen, und sich so auch ein wenig vom Andenken ihrer gerade verstorbenen tyrannischen Schwiegermutter freistrampeln.

Dann Marie, aus Schlesien von einem großen Gut vertrieben. Sie möchte eigentlich mit Pferden arbeiten, scheitert aber an den Umständen. Frauen traut man diesen Beruf nicht zu. So landet sie als Flüchtling erst einmal zwischen sämtlichen Stühlen – was ja heute nicht wesentlich anders ist…

Helga ist Tochter aus „gutem Hause“, rebelliert aber gegen diese ihr auferlegte Rolle. Mit Absicht rasselt sie durchs Abitur, vergrault potenzielle Ehemänner, und läuft schließlich davon, um Krankenschwester zu werden. Eine Liebschaft mit einem amerikanischen GI macht es da nicht wirklich besser…

Zu guter Letzt Annabel, Arztgattin, mit einem Kind, aber sehr vernachlässigt und an den Rand gedrängt. Aus lauter Frust nörgelt sie an ihrem Ehemann herum, der auch nur ein Kind seiner Zeit ist. Sie ist es auch, die zuletzt erst in den Freundschaftsbund der drei anderen aufgenommen wird. Das ganze Buch über kämpft sie mit sich und ihrer Verbitterung, versucht eher, alles Neue und alle Freude zu unterbinden und Intrigen zu säen.

Die Erzählweise ist sehr gut aufgebaut. Jeder Erzählabschnitt wird aus der Sicht einer der Frauen beschrieben, ist also entweder mit Luise, Helga, Marie oder Annabel betitelt. Diese vier Stränge verflechten sich im Laufe des Buches, zuerst langsam, dann schneller. Teilweise begegnen sich die Frauen zwischendurch, ohne es zu wissen, Szenen überschneiden sich und werden aus verschiedenen Perspektiven erzählt. Das fand ich besonders lustig! So wird der Leser gezwungen, sich ein eigenes Bild zu machen.

Letztlich kreist vieles um den Laden von Luise, den sie tatsächlich eröffnet. Hier begegnet man sich in einem Turnkurs. Marie malt später die Schilder für den Laden, da sie künstlerisch begabt ist. Helga leitet den Turnkurs. Und Annabel beäugt die Geschehnisse mit Argusaugen, da sie schräg gegenüber wohnt…

Was mich so begeistert hat, ist nicht nur die lebendige Verflechtung, sondern vor allem auch die Lebensfreude und der Humor, die aus dem Buch sprechen! Schon allein im Prolog, bei der ersten Turnstunde, habe ich Lachtränen vergossen! Yip yip, die Hüften schwingen ächzend, man versteht zwar kaum Englisch, aber tanzt dazu. Später werden liebevoll viele Details der Zeit aufs Korn genommen. Schwierige Schwiegermütter, tratschende Nachbarn, Hausfrauen auf der Suche nach dem richtigen Rezept, ländliche Begräbnisriten, Sitte und Anstand, die ersten Telefone und Fernsehapparate… Absolut grandios fand ich das Finale; hier wird nämlich das „Wunder von Bern“ geschickt in die Handlung eingeflochten. Man schaut Fußball bei Luise im Laden, was dann leider ein wenig eskaliert… das war ja fast wie bei Asterix!!

Das Buch hat aber auch keine Angst vor schwierigen Themen. Was geschah vor dem Krieg mit Behinderten? Wohin sind plötzlich so viele Kollegen mit dem „falschen Glauben“ verschwunden? Sind alle Besitztümer rechtmäßig?? Was wurde aus den Männern, die aus der Gefangenschaft heimkehrten? All das wird unangestrengt mit angerissen. Aber nicht mit dem erhobenen Zeigefinger.

Ich bin wirklich vollends begeistert! Die Frauen sind für mich wie Freundinnen oder Schwestern geworden. Sogar zu Annabel habe ich letztlich einen Zugang gefunden. Den nächsten Band kann ich kaum erwarten.