ICH bin nicht DU

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"Willst du damit sagen, dass deine Fotos dir wichtiger sind als das, was wir zusammen haben?" - "Ja, ich schätze, schon."

Lee Miller kommt Ende der 20er Jahre nach Paris, um sich als Künstlerin und Fotografin zu versuchen. Zuvor war sie als Model in den USA sehr erfolgreich, doch jetzt sieht sie ihre Zeit hinter statt vor der Kamera gekommen. Anschluss an die Pariser Künstlerszene findet sie über den berühmten Fotografen Man Ray, der ihr eine Assistentinnenstelle anbietet und ihr viel über die Fotografie beibringt. Schnell verändert sich die Beziehung der beiden, und sie werden ein Liebespaar. Doch je besser Lee wird, desto obsessiver versucht Man sie zu beherrschen - bis er irgendwann die Grenzen von ICH und DU nicht mehr erkennt.

Die Biografie der Fotografin Lee Miller liest sich bereits wie ein spannender Roman: Vogue-Model, Künstlerin, Fotografin, letztlich Kriegsfotografin im Zweiten Weltkrieg. Ein bewegtes Leben voller Umbrüche und großer Aufgaben. Whitney Scharer wird dieser aufregenden Persönlichkeit in ihrem Debütroman mehr als gerecht. Es gelingt ihr kunstvoll, alle wichtigen Etappen in Lees Leben im Roman unterzubringen, ohne ihn zu überfrachten. Ganz am Anfang sind wir mit der bereits alkoholkranken und zu Tode gelangweilten Lee auf ihrem Landhaus. Sie soll einen Artikel über ihre Zeit mit Man Ray schreiben - und diese Zeit macht den Hauptteil des Buches aus. Ihre Verbindung zu dem berühmten Fotografen hat Lee mit Sicherheit auch im echten Leben auf allen Ebenen geprägt.

Nach großen chronologischen Abschnitten, die atmosphärisch und szenisch dicht erzählt sind, folgen immer wieder kleine Einschübe aus Lees Jahren als Kriegsfotografin. Der scharfe Kontrast zwischen ihrem beinahe schon extravagant-naiven Leben in der Pariser Bohème und den Trümmerfeldern Europas macht deutlich, was Krieg mit Menschen anrichten kann. Lee kommt verändert, vermutlich sogar traumatisiert zurück - und wird schließlich depressiv und alkoholabhängig.

Doch Scharer legt den Fokus ganz klar auf die andere Seite von Lees Leben. Es geht in dem Buch um diese glitzernde Stadt, die jeden Außenseiter in Einsamkeit versinken lässt; um die Liebe, die manchmal zur Obsession werden kann; um die allesverzehrende Leidenschaft und überbordende Kreativität einer talentierten jungen Künstlerin; um den Kampf um Anerkennung in einer von Männern dominierten (Kunst-)Welt; um Anmaßung und Verleumdung; um Lust und Freiheit; um Dunkelheit und Licht. Gerade dieses letzte Thema zieht sich durch die Geschichte wie ein roter Faden, und in intelligente Dialoge über die Liebe, das Leben und die Fotografie webt die Autorin dieses Leitmotto immer wieder mit ein.

Sowieso ist sie eine großartige Komponistin, denn in diesem Roman sitzt jeder Satz, stimmt jede Szene. Das Buch wimmelt vor prominentem Leben: Kiki de Montparnasse, Jean Cocteau, Dalì, Picasso, usw. Einige Namen animieren zum Googlen, andere sind so bekannt, dass einem beim Gedanken an Lee in ihrem Umfeld der Mund offen steht. Auch surreale Szenen, in verrauchten Opiumhöhlen mit rosafarbenen Räumen und Menschen in Roben, fehlen nicht - passend zu Lees eigener Schaffensepoche. Und obwohl man Scharers Roman anmerkt, wie akribisch er recherchiert wurde, bleibt doch die Gewissheit, dass seine Personen zwar historische Vorbilder haben, aber doch Romanfiguren "in their own right" sind. Und das ist auch gut so.

Scharer ist mit ihrem ersten Roman ein ungewöhnliches Unterhaltungserlebnis gelungen, das von Anfang bis Ende hervorragend durchkomponiert ist und bei mir keine Wünsche offen gelassen hat. Ich bin begeistert und freue mich bereits jetzt darauf, mehr von ihr zu lesen!