Im Bug meiner Selbst

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Lee Miller ist ein erfolgreiches Vogue-Model in den USA, als sie 1926 beschließt, die Seiten an der Kamera zu wechseln und nach Paris zu ziehen. Mittellos, einsam und von Selbstzweifeln geplagt irrt sie durch die schillernde Stadt, verbringt Nächte in Clubs und bewirbt sich bei dem berühmten Surrealisten und Dadaisten Man Ray als Foto-Assistentin. Schnell wird aus der Arbeits- auch eine Liebesbeziehung - sie wird Mans Muse und entwickelt ihr fotografisches Talent selbstbewusst weiter. Die beiden haben Freunde wie Jean Cocteau, Picasso und Horst P. Horst, verbringen eine berauschende und erotische Zeit, doch bei diesen zwei exzentrischen Menschen mit stark ausgeprägtem Ego fällt das Gleichgewicht in der Beziehung schwer. Man Ray wird immer besitzergreifender, während Lee immer mehr ihre berufliche und persönliche Eigenständigkeit und Freiheit sucht.

"Die Zeit des Lichts" ist das Debüt der Autorin Whitney Scharer und eine betörende, ästhetisch hochwertige und spannende historische Fiktion über zwei brillante Charaktere und außergewöhnliche Künstler aus dem wahren Leben. Scharer hat das Leben der beiden ausführlich recherchiert und rund um die historischen Ereignisse eine fesselnde Fiktion in der Hochphase des kulturellen Lebens im Paris der 1920er-Jahre gewoben. Lee Miller ist komplex und faszinierend - traumatisiert in der Kindheit, stark und sexuell unabhängig und im Gegenpol unsicher und verschlossen. Sie wird später Man Ray verlassen und als Kriegsreporterin durchstarten - ist mit ihrer Kamera in Deutschland dabei, als die Alliierten die Konzentrationslager befreien und sie wird sich in Hitlers Badewanne ablichten lassen. Doch die Kriegsreportagen und die persönlichen Schicksalsschläge fordern ihren Tribut - war sie in Paris noch von dem Gedicht "Reisen im Bug meiner Selbst" als Leitbild fasziniert, verliert sie sich mit den Jahren immer mehr und wird alkoholabhängig. Hunderte von Negativen wird sie auf ihrem Landsitz auf dem Dachboden verstecken und versuchen, vor manchen Ereignissen aus der Vergangenheit innerlich zu fliehen. Die eigene Mitte wird sie leider nie wahrhaftig finden.

In Scharers fiktiven Biografie spielt die Arbeits- und Liebesgeschichte von Lee und Man die größte Rolle, aber auch Lees kontinuierliches Bestreben um Emanzipation und künstlerische Eigenständigkeit - zwischendrin erfährt der Leser in (leider) sehr kurzen Kapiteln von der Stärke Lee Millers in Kriegsgebieten und ihren Hass auf Nazis. Eine faszinierende Künstlerin und ein ebenso faszinierendes Debüt - der Sprachstil ist bildgewaltig und mitreißend, so dass ich zwischendrin immer nach Fotos von den beiden im Internet gesucht habe und die bildlichen Beschreibungen im Buch sehr prägnant gepasst haben. Auch die Ausflüge in das künstlerische und fachliche Wissen rund um die Fotografie sind sehr gut wiedergegeben. Ich werde mir auf jeden Fall ein Bildband über Man Ray und Lee Miller bestellen und diese fiktive Liebesgeschichte vor Augen haben. Unwiderstehlich und bewegend!