Spiel mit Licht und Dunkelheit

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aennie Avatar

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Elizabeth „Lee“ Miller wurde im Jahr 1907 im Upstate New York geboren. Sie war Fotomodell, Fotografin und Kriegsberichterstatterin im 2. Weltkrieg. Sie präsentierte Modestrecken in der Vogue, entwickelte neue künstlerische Fototechniken und fotografierte das Grauen in den befreiten Konzentrationslagern. Sie hatte ein bewegtes Leben, das Spuren hinterlassen hat. Mit ihrem Ehemann lebte sie auf einer Farm in Sussex, zunehmend in Traumata, Alkoholprobleme und Neurosen verfallend. Der Roman von Whitney Scharer setzt an diesem Punkt an. Eine gealterte Lee wird von ihrer Verlegerin aufgefordert, einen Artikel zu schreiben, über eine der prägendsten Personen in ihrem Leben, den surrealistischen Künstler Man Ray, mit dem sie Ende der 1920er Jahre in Paris zusammentraf und einige Jahre zusammenlebte. Sie soll von ihm berichten, von seiner Arbeit. Doch damit hat Lee ein Problem: seine Arbeit, seine Geschichte, ist in großen Teilen auch und manchmal auch mehr ihre Arbeit, ihre Geschichte…
Und dann beginnt die eigentliche Erzählstrecke des Romans. In zwei Ebenen berichtet die Autorin von den beiden entscheidenden Entwicklungsphasen in Lee Millers Historie. Der Hauptstrang beschäftigt sich mit ihrer Zeit mit Man Ray in Paris, ihre Emanzipation vom Model zur Assistentin zur Fotografin zur Künstlerin. Er beschreibt ihr Leben in der Pariser Künstlerszene, ihr Zusammentreffen mit anderen bekannten Künstlern des Surrealismus und ihre Arbeit im Fotoatelier, das Flair dieser Gesellschaft in Paris, mit einem Gefühl, das ich nur als Bohème beschreiben kann, Opiumhöhlen, die grüne Fee Absinth, künstlerische Freiheit, Experimente. In kleinen Einschüben wird dazwischen geschildert, wie es dazu kam, dass sie als Kriegsfotografin bekannt wurde, mit ihren Bildern des Grauens, der Leichen in den KZ, ihr selbst in Hitlers Badewanne, die sich den Schmutz ihrer Arbeit vom Leib wäscht.
Whitney Scharer hat um die real existierende Lee Miller einen Roman geschrieben. Orientiert an den Eckpunkten ihrer Biographie, angereichert mit Fiktion, „wie es gewesen sein könnte“ und dies hat mir sehr gut gefallen. Die Autorin zeichnet ein lebendiges Bild einer exzentrischen Kunstszene zu einer spannenden Zeit in Europa, den ausgehenden goldenen Zwanzigern und eine glaubhafte Szenerie einer Liebesbeziehung, nicht wirklich eine Amour fou, aber schon eine große, verzehrende, aber nicht dauerhafte Liebe, die letztlich scheitern muss. Sie charakterisiert – für mein Empfinden – gut, was künstlerische Arbeit und Leben mit einem Künstler ausmacht, wie sie erfüllen, aber auch vernichten kann. Letztlich liegt der Fokus auf dem spannendsten Aspekt, der Entwicklung, der Werdung einer großen Künstlerin, gepackt in eine fesselnde, gut erzählte Story, die in den Details so nie stattgefunden haben mag, aber sich so abgespielt haben könnte und dazu noch lehrreich ist – denn zugegebenermaßen habe ich Surrealismus bisher mit niemandem außer Salvador Dali in Verbindung bringen können und habe hier sowohl über die Kunstrichtung, ihre Spielarten und Vertreter eine Menge erfahren. Lee Miller als Persönlichkeit ist so spannend wie schwierig, ihr späterer „Verfall“ fast tragisch, aber nachempfindbar. Zu viele Traumata, zu viel gesehen, mit einem Auge, das ein besonderes Talent besitzt, das ganz besondere in einem Bild zu erfassen.
Fazit: wirklich interessantes Buch über die Entwicklung einer spannenden Persönlichkeit und einer beachtenswerten Kunstrichtung. Es lohnt sich vor allem auch die erwähnten Kunstwerke und Künstler, die die Autorin in die Geschichte einflicht, einmal selbst zu recherchieren, und zu entdecken!