Das große Glück in Anatolien und sein drastisches Ende

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Maria ist schwanger und möchte sich nicht den Erniedrigungen aussetzen, die in ihrem kleinen Heimatdorf auf sie warten, denn der Vater des Kindes hat sich überraschend nach Anatolien begeben, um am Bau der Bagdadbahn mitzuwirken. Ausgestattet mit einem starken Willen und einer gehörigen Portion Mut beschließt die Hochschwangere, Wilhelm in Anatolien zu suchen und ihn mit der Situation zu konfrontieren. Hier findet diese Frau meinen höchsten Respekt, denn wir befinden uns in der Zeit um 1900, als Frauen in der Gesellschaft eine untergeordnete Rolle zugewiesen bekamen und sich zu fügen hatten.
Maria erreicht ihr Ziel, ein kleines Dorf in Anatolien, und eine traumhafte Zeit beginnt: ein großes Haus, Bedienstete, ein schöner Garten, Kindersegen, ein eigenes Pferd usw. Wilhelm hat es zwar nicht leicht mit dieser rebellischen Frau, aber er liebt sie und sorgt für sie und die Kinder. Maria ist klug und stark, sie agiert in Ruhe, um ihre Ziele zu erreichen. In ihrer Ruhe liegt die Kraft!
Der erste Teil des Buches beschreibt dieses herrliche Leben in Anatolien, in dem es Höhen und Tiefen gibt, wo aber die Lebensfreude Marias deutlich spürbar ist.
Alles gerät jedoch ins Wanken, als der erste Weltkrieg ausbricht und das Verbleiben im osmanischen Reich unmöglich wird. Maria und Wilhelm haben Angst um die Zukunft ihrer wehrpflichtigen Söhne und verschaffen ihnen eine neue Identität, wodurch der Fortbestand der Familie zu zittern beginnt. Es wird viel schlimmer als erwartet....die beiden Söhne erleiden einen totalen Identitätsverlust. Türke? Franzose? Deutscher? Erich und Hans haben keine Wurzeln mehr und verlieren sich selbst. Hans überlebt den Krieg nicht, Erich bleibt körperlich unversehrt, ist aber ein seelisches Wrack.
Der ganze zweite Teil des Buches dreht sich überwiegend um Erich und seine Versuche, im Leben wieder Fuß zu fassen. Hier hätte ich gern noch mehr Informationen zu Marias Entwicklung gelesen, denn sie entwickelt sich zu einer gehässigen, tyrannischen und lethargischen Frau. Gern hätte ich mehr darüber erfahren, wie es dazu kommen konnte. Dazu werden leider nur Andeutungen gemacht.
Der Schreibstil der Autorin ist sehr ansprechend und flüssig, die Charaktere der einzelnen Protagonisten sind präzise gezeichnet, so dass man sie leibhaftig vor Augen und im Kopf hat. Sehr informativ fand ich den historischen Hintergrund, denn über diese Zeit und die politischen Entwicklungen, besonders im Nahen Osten, wusste ich nicht viel. Hier hat die Autorin intensive Recherchearbeit geleistet.
Alles in allem: Eine Familiensaga der etwas anderen Art, sehr lesenswert und informativ, auch wenn es nicht um den Zusammenhalt der Familie geht, sondern um ihr Zerbrechen!