Unsentimental und ehrlich

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alasca Avatar

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Die Zeit des Lockdowns, die das schöne Wort „Beherbergungsverbot“ geprägt hat, ist der Aufhänger für Matthiessens Rückblick in die 80er und 90er Jahre auf der Urmutter aller Schickimicki-Inseln. Die ist für die Ursylter eine Urlaubsmaschine, die für die Gäste zuverlässig funktionieren muss, damit ihre Bewohner überleben können. Fast jeder hier lebt vom Tourismus. Wer sich Selbstverwirklichung nicht als Hotelmanager, Souvenirverkäuferin oder Bauunternehmer vorstellen kann, muss die Insel verlassen, so wie es die Autorin getan hat. Nicht jeder gelingt es – so mancher verkümmert trotz prallem Portemonnaie.

Die Leere auf der Insel erinnert Matthiessen an die Anfänge und an den Beginn von Wegen, die falsch waren, die man aber aus Bequemlichkeit, Mangel an Vorstellungsvermögen und Profitgier nicht mehr verlassen hat – bis heute. Und erstmalig setzt die Autorin sich mit dem Missbrauch einer alten Freundin auseinander. Alle wussten es, niemand mochte hingucken, denn in der Saison war keine Zeit, und außerhalb musste die Oberfläche für die neue Saison blankpoliert werden. Vor Abgründen schreckte man zurück. Und selbst in intakten Familien litt fast jedes Kind unter Saisonverwahrlosung. In der Gegenwart findet die Autorin klare Worte dafür: besser spät als nie. Das hat mir sehr gefallen.

Ich bin wohl eine der wenigen, die noch nie auf Sylt gewesen sind. Insofern habe ich aus Matthiessens Geschichte viel Neues erfahren. Zum Beispiel, dass sie Insel einmal Zentrum des deutschen Punk gewesen ist. Und natürlich musste ich mir unbedingt auf UTube den Ärzte-Song „Westerland“ reinziehen; der läuft seitdem in meinem Kopf in Dauerschleife. Die Ärzte bringen es (wie immer) auf den Punkt: „Es ist zwar etwas teurer/ Dafür ist man unter sich/ Und ich weiß jeder Zweite hier/ Ist genauso blöd wie ich!“

Neben Bauboom und Flächenfraß gibt es trotzdem noch viel Natur auf der Insel. Nur wie lange noch? Bei jeder Sturmflut beißt sich die Nordsee, Mordsee ein Stück von der Insel ab. Der Klimawandel, das macht Matthiessen klar, wird der Insel am Ende zum Verhängnis werden.

Mathiessens Schreibe ist knapp und knackig und liest sich flüssig, ihr Rückblick ist unsentimental und ehrlich. Trotz aller Kritik am Ausverkauf der Insel ist ihre tiefe Liebe zum Ursprungsort in jeder Zeile spürbar. Ich bin ihr gerne gefolgt und hatte anschließend das Gefühl, wirklich dort gewesen zu sein, bei Sturmflut ausgehalten und den Inseloriginalen die Hand geschüttelt zu haben. Trotzdem glaube ich: Sylt ist wie Venedig. Einmal muss man dort gewesen sein, bevor es untergeht.

Leseempfehlung!