Egidius De Blaeser - Die stille Kraft von Freundschaft und Kunst

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vanessa_91 Avatar

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Meine Meinung

"Dius" von Stefan Hertmans ist ein Buch, das ich für mich nur schwierig einordnen kann. Es hat kaum Handlung im klassischen Sinne, stattdessen ein tiefes Ineinandergreifen von Erinnerung, Liebe, Freundschaft, Kunst und Verlust. Diese langsame und reflektierte Erzählweise bestimmt den gesamten Roman.

Im Mittelpunkt stehen Anton, ein nach innen gerichteter Kunstdozent, und Dius, ein junger Künstler mit außergewöhnlichem Ausdruckswillen. Dius ist rätselhaft, oft schwer zu greifen, mal offenherzig, dann wieder unnahbar und von einer geheimnisvollen Energie erfüllt. Sein Auftauchen bringt Anton aus dem Gleichgewicht, ohne dass je klar wird, wie viel Nähe Dius tatsächlich zulässt und wie viel von ihm immer im Dunkeln bleibt. Gerade dieses Schweben zwischen Nähe und Distanz macht den Reiz ihrer Beziehung aus.

Der Alltag im abgelegenen Haus, Gespräche über Kunst, Spaziergänge durch die Landschaft, die langsame Routine im Atelier. Vieles ist geprägt von Beobachtung und Andeutung. Das Buch verlangt Geduld, aber es belohnt mit einer Atmosphäre, die sich wie eine langsame Welle entfaltet.

Ein Punkt, der für mich sowohl positiv als auch herausfordernd war, ist die Fülle an Kunstbezügen. Hertmans beschreibt Gemälde, Kompositionen und künstlerische Haltungen mit großer Genauigkeit. Manchmal erschien mir das zu viel, fast zu viel für mich als Laie. Und dennoch musste ich ab und zu aus Neugier etwas nachschlagen, Künstlernamen oder Werke (Quelle Wikipedia https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Vittore_Carpaccio_-_Giovane_cavaliere_in_un_paesaggio.jpg) im Internet suchen, weil die Beschreibungen mich neugierig machten. Es ist also beides: überwältigend und gleichzeitig anregend, weil man in eine ästhetische Welt hineingesogen wird, die man ohne dieses Buch vielleicht nie betreten hätte.

Viele Szenen konzentrieren sich auf die Spannung zwischen den beiden Figuren. Anton, der analysiert und denkt, und Dius, der aus Gefühl und Impuls heraus lebt. Diese zwei Arten, die Welt wahrzunehmen, stoßen immer wieder aneinander. Es gibt Bewunderung, aber auch Unsicherheit, stille Konkurrenz und die Angst, den anderen nicht wirklich zu verstehen.

Stilistisch bleibt Hertmans ruhig, klar und entschleunigt. Manche Teile des Buches hätte meiner Meinung nach etwas eingekürzt werden können. Wer auf schnelle Entwicklungen hofft, wird hier kaum fündig. Der Roman arbeitet mit Nuancen, mit Pausen, mit Leerstellen. Er zwingt dazu, das Tempo zu reduzieren und sich auf die feineren Bewegungen der Figuren einzulassen.


Über den Autor

Stefan Hertmans, geboren 1951 in Gent, Belgien, ist Dichter, Dramatiker, Romancier und gilt als einer der wichtigsten niederländischsprachigen Autoren der Gegenwart. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet. Der Roman ›Krieg und Terpentin‹ war 2016 unter anderem für den International Man Booker Prize und den Premio Strega International nominiert. Hertmans lebt in Brüssel und im südfranzösischen Monieux.