Freundschaft oder Obsession ?

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toniludwig Avatar

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Im Jahre 2024 lag der Länderschwerpunkt der Leipziger Buchmesse auf den Niederlanden und der 1951 geborene Stefan Hertmans gehört zu den wichtigsten Vertretern der literarischen Szene der Niederlande und Flanderns.
Die regelmäßige Veröffentlichung niederländischer Literatur ist eines der Verdienste des Diogenes-Verlages; die zuletzt von Hertmans erschienenen Romane wurden alle von Ira Wilhelm grossartig ins Deutsche übertragen.
Bei diesem 2024 im Original erschienenen Roman bedurfte sein Titel >>Dius<< freilich nicht der Übersetzung, in der lateinischen Sprache besteht ein Bezug zu >>göttlich<< oder >>heilig<<.

Heilig mutet es freilich nicht an, was der titelgebende Romanheld eingangs der Handlung so treibt, es ist eher ein Grenzüberschreitung, die Kunstvorlesung seines Dozenten zu stören und ihn gar daheim mit einem aberwitzig anmutendem Vorschlag aufzusuchen.
Der Beginn einer tiefen Freundschaft ? Oder doch einer Obsession ?

Dies freilich muss der Leser selbst entscheiden, der hineingezogen wird in eine entstehende Freundschaft, welche zunächst das Lehrer-Schüler-Verhältnis sprengt und die schliesslich ein ganzes Menschenleben an - und aushält.
Erzählt wird all dies aus der Perspektive von Anton, dem grüblerischen Dozenten und Analytiker, zehn Jahre älter als Dius und viel mehr der Theorie zugewandt als dem praktischen Leben.
Seine sensible Unentschlossenheit zeigt sich auch im Auf und Ab mit seiner Geliebten Lys, zunächst eine Affäre, später eine schier unerfüllbare Sehnsucht.

Und mittendrin Dius, ein unberechenbarer, kraftvoller junger Mann, bar jeglicher Konventionen, ein Meister des Praktischen im Herstellen von menschlichen Körpern nachempfundenen Möbelstücken, gleichsam aber auch ein feingeistiger Maler blutender Wunden, oft genug seiner eigenen.
Dius ist auf seine Art tatsächlich göttlich und verkörpert überwiegend die Mischung von Wahnsinn und Genie, dabei gänzlich aus seiner Zeit gefallen.
Anton verfällt ihm auf seine Art, mit Folgen, die ihn ungemein bereichern und erfüllen sollen, gleichwohl aber ein Leben lang eine Last bleiben werden.

Der beginnend in den 1980er Jahren zwischen Belgien und Bergamo angesiedelte Roman ist wie geschaffen für lange Abende am Kachelofen oder neuzeitlich halt in der Nähe vom Kamin, am besten mit einer Tasse Tee und der Möglichkeit, Musik zu hören und Kunstwerke zu betrachten.
Denn das Werk strotzt nur so von musikalischen Anspielungen und Beschreibungen,
von Gesualdos Madrigalen, einer verzauberten Welt voller Arien, Fugen, Passacaglien, Sarabanden oder Chorälen, Mahlers Urlicht, den letzten Sonaten von Schubert in der Interpretation von Alfred Brendel oder dem eindrucksvollen Klagelied von Dieterich Buxtehude.
Und damit nicht genug - es werden Gemälde beschrieben wie die Allegorie der Liebe von Bronzino, die den Leser immer wieder vor die Frage stellen - weiterlesen oder innehalten, um das Gemälde selbst zu betrachten.
Doch dies ist keineswegs ein störendes Moment, es fügt sich in die drängende Handlung ebenso ein, wie die vielen nachdenklichen Impulse, die uns Stefan Hertmans mit auf den Weg gibt:
über das Leben, welches etwas ist, was dir geschieht, nicht etwas, was du dir wünschst, über das Glück, den Widerschein unserer Vorurteile, den Verlust der Mitte (mit einem Bild von Asger Jorns), über den Kunstbetrieb und die Selbstgefälligkeit des Bürgertums wie über Sitz und möglichem Gewicht unserer Seele, über Jugend oder den Schatten der eigenen Selbstgefälligkeit.

Die Melancholie des Textes etwa wird deutlich in einem meinem Lieblingssätze :
>> ...viel zu wissen fällt uns leicht, etwas zu erkennen hingegen schwer ...<< .

Ob Anton je die verborgene Botschaft unter der Schreibtischplatte wird lesen können, die ihm sein Freund Dius in den Zeiten grösster Vertrautheit hineingetischlert hat ?

Und schließlich noch ganz am Rande : in einer kurzen Sequenz wird eine der drastischsten Trennungen in Form einer Haushaltshalbierung beschrieben - köstlich.

Wer noch immer nicht von diesem Buch überzeugt ist, der begebe sich zu seinem Buchladen des Vertrauens, bestaune das Cover und lese dort den ersten Satz des Romans - ihm werden nach dem sicheren Erwerb des Romans (dem lediglich ein Lesebändchen fehlt) etliche Stunden Freude und Erkenntnisgewinn sicher sein.