Es ging ums nackte Überleben

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babsiemarie Avatar

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Bildhaft, detailreich und fesselnd erzählt Theresia Graw eine Geschichte aus der deutschen Nachkriegszeit. Und irgendwie auch die Geschichte der deutschen Nachkriegszeit. Denn es gelingt ihr, am Beispiel einer Stadt ein kleines Panorama jener Zeit zu entwerfen. Und das, ohne dabei lehrbuchhaft herüberzukommen.
Bad Oeynhausen kommt nicht gerade als Erstes in den Sinn, die Zäsur nach dem Zweiten Weltkrieg zu verdeutlichen. Die idyllische Kurstadt in Westfalen wurde weitgehend von Bombenangriffen verschont. Alles, was anderswo bis auf die Grundmauern zerstört worden war, blieb hier intakt. Doch die Hoffnung der Hotelerbin Anne Gerland, schnell wieder zur Normalität zurückkehren zu können, wird ebenso schnell zertrümmert. Die britische Besatzungsmacht erklärt Oeynhausen zu ihrem Hauptquartier. Was bedeutet, dass die Bewohner der mondänen Innenstadt aus ihren Häusern und Geschäften vertrieben werden. Mit wenigen Habseligkeiten werden sie in Baracken am Stadtrand zusammengepfercht.
Den völlig veränderten Alltag, an den sich die Deutschen nach der Stunde Null anpassen mussten, schildert Theresia Graw anhand vieler kleiner Begebenheiten. Kohlen klauenden Kinder. Aufgemalten Strumpfnähte, mit denen deutsche Frauen versuchten, die begehrten amerikanischen Nylonstrümpfe nachzuahmen. Hungernde, die an Äckern ausharren, bis die Bauern ihre Ernte heimfahren. Um dann mit bloßen Händen nach Resten verschrumpelter Kartoffeln zu scharren. Manches beschreibt Graw ausführlich, manches erwähnt sie nur so nebenbei. Das lässt den Erzählfluss natürlich fließen.
Auch, weil Graw gründlich recherchiert hat und sich im vorgefunden Material sicher bewegt. Berücksichtigt wurden offenbar auch neuere Forschungsergebnisse, die ein deutsches Nachkriegsnarrativ einschränken: „Wir haben ja alle nichts gewusst.“ Hier und da lässt Graw durchscheinen, dass es sehr wohl etwas zu ahnen oder gar zu wissen gegeben hat. Gleichzeitig vermittelt die Autorin, ohne es ausdrücklich zu benennen, dass Kälte, Hunger und Krankheiten in den ersten Nachkriegsjahren kaum Raum ließen, um sich mit den Verbrechen des NS-Regimes auseinanderzusetzen. Es ging ums nackte Überleben.
Graw erzählt ihre Geschichte konsequent aus der Perspektive zweier Frauen: der Hotelerbin Anne Gerland und ihrer einst besten Freundin Rosalie. Sie verkörpern unterschiedliche gesellschaftliche Verhältnisse. Die Niederlage Deutschlands hat ihre Situation verkehrt. Anne steht für jene Bürger der Stadt, die aus ihrem Wohlstand in Hunger und Kälte gestürzt wurden. Rosalie dagegen, die ehemals Arme, kommt als Haushilfe bei einem Landwirt unter. Die Arbeit strengt an, aber zu essen gibt es satt.
Die Figuren stehen den Lesenden plastisch vor Augen. Sie sehen Anne, wie sie vor sich, wie sie aus dem Hotel ihrer Eltern stampft, wie sie ins Büro eines britischen Offiziers stürmt, um gegen die Ausquartierung zu protestieren. Sie sehen Rosalie, die sich hübsch zurechtmacht, mit Offizieren flirtet, um vielleicht in England ein besseres Leben anfangen zu können. Graw verzichtet auf ellenlange Charakterbeschreibungen. Stattdessen lernen wir Anne und Rosalie nach und nach durch ihr Verhalten und ihre Dialoge kennen – so wie im echten Leben.
Die Nebenfiguren fügen dem Plot die ein oder andere Randnotiz hinzu: Annes Mutter, die an einer Lungenentzündung stirbt, weil es kein Penizillin gibt. Der jüdische Ex-Geliebte ihrer Schwester, der als englischer Soldat nach Deutschland zurückkehrt. Ihr Schwager, ein verblendeter Nazi, der sich einer Terrorgruppe gegen die Alliierten anschließt. In keinem dieser Fälle verirrt sich die Geschichte auf Nebenschauplätze. Spannend bleibt die Frage, was letztlich aus Anne und Rosalie wird.