Biographisches Doppel aus Meisterhand!

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angélica Avatar

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Die Sepia-Fotografien auf beiden Seiten des Schutzumschlags!
Vorne SIE, Agatha Christie, die sich aus schwach beleuchtetem Hintergrund eines Zimmers (ihres Arbeitszimmers?), an einem Schreibtisch arbeitend, dem Betrachter mit scharfem, etwas nach links gerichtetem Blick zuwendet. Rückseitig ER, Oskar Kokoschka, platziert als Brustportrait auf der Seite links unten, in Jackett, weißem Hemd und dunkler Krawatte, nach rechts blickend. Über den Buchschnitt hinweg scheint er ihren Blick wie horchend zu kreuzen, ihn wie mit dem Rauch seiner (zwischen Daumen und Zeigerfinger der linken Hand gehaltenen) Zigarette tief zu inhalieren.
Die Genialität dieser Umschlaggestaltung erschließt sich nur genauem Betrachten; Agatha's Schärfe im Hinsehen ist vonnöten. Von dieser und vielem anderen erfahren wir in den hervoragend übersetzten acht Kapiteln des Buches, einladend klar und überschaubar gegliedert in einen umfänglichen Prolog ('Aufwärmen'), einen Hauptteil mit 6 Kapiteln ('Erste bis sechste Sitzung') und einen knapp gehaltenen Abschluss ('Vernissage und kurzer Epilog').
Was wird erzählt? Agatha's Enkel Mathew und ihr Gatte Sir Max möchten sie zu ihrem achtzigsten Geburtstag porträtieren lassen - von Oskar, der mit seinen 85 Jahren gerade zum letzten Mal in London weilt. Weder der Maler noch die Kriminal-Autorin, die sich bis dato persönlich nicht kennen, sind von dieser Idee begeistert.
In den sechs Sitzungen ergreift hauptsächlich Oskar des Wort, wiewohl er eigentlich Agatha zum Reden bringen will, um dadurch ihrer Persönlichkeit näherkommen und sie malerisch einfangen zu können. Doch sie, die Vielschreiberin, ist scheu, was Sprechen betrifft, und schon gar nicht geht es über sich selbst. Die wachsende Spannung zwischen dem Freimütigen und der Zugeknöpften führt fast zum Abbruch der Arbeit. Auf dem Höhepunkt der Krise aber wendet sich das Blatt.
So betagt die beiden Akteure sind, als Kinder lernt der Leser sie kennen - und als Liebende, beide fast zerbrechend am Verlassenwerden in der Blüte ihrer Jahre.
So gar nichts Seniles, vielmehr pralle, skurille und mitreißende Offenbarungen aus der Lebensbewältigung der beiden Koryphäen packen den Lesenden am Seelen-Schopf und schleifen ihn im Schwunge bis zum letzten Satz.
Sprachliche Präzision, Reduktion und Trockenheit bringen hin und wieder überraschend lyrische, bisweilen sogar fast märchenhafte Stimmung durch die Hintertür. Ebenso unauffällig, fast unerwähnt entsteht während der Einblicke in das seelische Gefüge der Protagonisten das Porträt, eigentlicher Dreh- und Angelpunkt dieser meisterlichen literarischen Komposition. Dessen Enthüllung im letzten Kapitel erfolgt ohne großes Aufheben. Agatha findet, sie habe eine immens große Nase bekommen.
Abgebildet im Buch ist das Ölgemälde nicht. Dem Leser obliegt es selbst, sich auf die Suche danach zu begeben, oder auch nicht.
Halten wir uns also an die beiden Fotografien auf dem Schutzumschlag: Über den Buchschnitt hinweg ist den beiden am Lebensabend Stehenden zuletzt eine Begegnung von enormer seelischer Intimität und Dichte gelungen. Die gut zweihundert Seiten zwischen den Buchdeckeln legen davon Zeugnis ab. Sie sind pures Lese-Geschenk.