Ein magisches Buch

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juma Avatar

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Es gibt Bücher, die werden wie Freunde, wenn man sie zu Ende gelesen hat, möchte man sie in den Arm nehmen, an sich drücken und flüstern, Du bist wunderbar. Doppelporträt ist eines dieser seltenen Bücher. Es hat auf mich magisch gewirkt, wie ein warmer Wind am Mittelmeerstrand, wie ein Sonnenstrahl im Winter.
Oskar Kokoschka, hochbetagt, berühmt, wird um ein Porträt von Agatha Christie gebeten. Sie mag es nicht, angestarrt zu werden, schon gar nicht gemalt zu werden. Sie findet sich mit ihren knapp achtzig Jahren vielleicht auch nicht mehr schön und attraktiv genug. Trotzdem gibt sie nach, ihrem Enkel Matthew und ihrem Mann Max zuliebe wird sie sich zu sechs Sitzungen mit Kokoschka entscheiden, nicht mehr nicht weniger.
Es ist ein Vergnügen, zu lesen, wie der alte Maler sich aus dem Taxi windet und mit seiner Frau Olda und allen Malutensilien, wozu natürlich auch Whiskey gehört, und bei Agatha Christie zur ersten Sitzung erscheint. Olda macht sich schnell aus dem Staub und es beginnt das äußerst schwierige Kennenlernen. Oskar ist derjenige, der spricht, Agatha hält sich zurück, sie redet nicht gern, sie schreibt lieber. Aber dieser Oskar Kokoschka bringt es doch fertig, sie wie eine verklemmte Auster Stück für Stück zu öffnen. Er breitet vor ihr sein Liebesdrama mit Alma Mahler aus, erzählt von Kindheit und Krieg, und er lässt nicht ein bisschen locker. Agatha scheint reserviert, aber sie hat längst Feuer gefangen und fast am Ende der Sitzungen entblößt auch sie ihr Innerstes, erzählt wie in Trance von ihrem Verschwinden für einige Wochen, das nicht nur ihren Ehemann, sondern ganz England damals in Unruhe versetzte. Diese beiden alten Künstler entwickeln ein so inniges Verhältnis, dass es zu Tränen rührt. Aber noch immer weigert sich Agatha standhaft, das Porträt anzusehen, das nun in der sechsten Sitzung tatsächlich fertig geworden ist, das mit keinem Pinselstrich mehr verbessert werden könnte, das so sehr Agatha ist, dass jeder, der es sieht, fasziniert ist. Kokoschka hängt seine schmutzige Malerschürze darüber und es muss bis zur „Einweihung“ warten. Als Agatha es sieht, moniert sie nur die Nase, mehr nicht.
Aus diesen sechs Sitzungen und dem Porträt ist eine Freundschaft entstanden, die bis zum Tod der beiden Künstler und darüber hinaus reicht. Aber sie sehen sich nie wieder, nur Briefe werden gewechselt, diese aber anrührend und von großer Menschlichkeit geprägt.
Kokoschka schreibt, was er heute nicht schreiben könnte angesichts der Katastrophe, die in der Ukraine geschieht: „Alt zu werden, …, ist nicht so übel. Erst da kann man die Struktur erkennen. Lass uns übrigens einander gratulieren, dass kein Krieg herrscht. Hast du daran gedacht, Agatha, dass jetzt mehr Jahre vergangen sind, als zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg lagen?“ Agatha, die Skeptikerin, fragt zurück. „Soll das eine Garantie sein?“
Für mich eines der schönsten Bücher der letzten Zeit, wundervoll geschrieben und übersetzt, stilvoll bis zur letzten Zeile. Das Original ist schwedisch, ich bin froh, dass es eine so schöne deutsche Entsprechung gefunden hat. Die Typographie angemessen großzügig und edel.
Ich habe nur eines vermisst, das Porträt von Agatha Christie, das es ja tatsächlich gibt, auch wenn die Geschichte der sechs Sitzungen und der dabei geführten Gespräche fiktiv sind. Ich habe mir das farbenfreudige Bild im Internet angeschaut. Eine alte Frau schaut den Maler an, etwas irritiert, wie es scheint, sitzt sie vor ihrem Bücherschrank in einem großen Sessel, harrt der Dinge, die da kommen. Das Bild hat eine beachtliche Größe von 112 mal 81 cm und befindet sich nach wie vor in Privatbesitz, vermutlich in der Familie. Die Glücklichen!