Im Blick

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joberlin Avatar

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Dieses außergewöhnliche Buch gehört ganz sicher zu den Highlights des Frühjahrs 2022, denn
hier kommt einfach alles zusammen: die brillante Idee, der hervorragende Stil, der interessante Inhalt.

Oskar Kokoschka bekommt 1969 den Auftrag, ein Porträt der Schriftstellerin Agatha Christie anzufertigen. Sie wird 80, er ist fast 85 Jahre alt – und hat überhaupt kein Interesse und auch keine Lust dazu. Andererseits …. er will England endgültig verlassen und in die Schweiz zurückkehren, da könnte er Geld gut gebrauchen. Auch Agatha Christie ist zunächst keineswegs amused, willigt dann aber doch ein. Kokoschka wird in ihrem Haus arbeiten, diverse Sitzungen sind angesetzt. Es geht ihm nicht so sehr um äußere Übereinstimmungen, sondern vielmehr um geistige - und dazu muss er sein Gegenüber gut kennenlernen.

Wir wissen nicht, ob das Bild wirklich so entstanden ist und die Gespräche der beiden alten, mürrischen Künstler sind reine Fiktion, aber Agneta Pleijel kann uns durch ihr großes schriftstellerisches Können überzeugen: ja, genauso ist es gewesen. Der Blick auf ihre Stars ist manchmal augenzwinkernd ironisch, immer aber zugewandt liebevoll und es gelingt ihr spielend leicht, das Doppelporträt mit Leben zu füllen, "die Grenzen verschwinden. Man ist tief anwesend im Wesen eines anderen". Und das ist nie geschwätzig, aber immer interessant, amüsant und manchmal auch traurig.

Wir lesen von Oskars dramatischer Liebe zu Alma Mahler und Agathas unglücklicher erster Ehe und natürlich kommen auch die mysteriösen 10 Tage, in denen sie nicht auffindbar war, zur Sprache. Wir erhalten Einblicke in die persönliche Entwicklung und den Schaffensprozess der beiden und ich glaube, dass gerade die fatalen privaten Ereignisse große künstlerische Kraft freisetzen konnten.

Man kann bedauern, dass diese Gespräche so wohl nie stattgefunden haben, man muss jedoch dankbar sein, dass diese wunderbare Autorin uns trotzdem daran teilhaben lässt.