Ein „Sandwichwerk“

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gaia Avatar

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„Verdammt, ich verstehe es zwar nicht, aber ich finde es toll.“

Das oben stehende Zitat findet sich im Roman und beschreibt, wie eine Figur absolut nichts mit dem Konstrukt von nichts anfangen kann, aber die Auswirkungen von nichts toll findet. Alles verstanden? Nein? Das ist nicht schlimm. Dieser Roman ist absurd und abstrakt, darauf muss man sich einlassen können.

Percival Everetts Roman „Dr. No“, welcher im englischsprachigen Original bereits 2022 zwischen den großartigen Werken „The Trees“ („Die Bäume“) und „James“ erschien. Wir in Deutschland bekommen den Roman also zeitversetzt und nach „James“ zu lesen. Im Vergleich zu den beiden genannten Werken wirkt „Dr. No“ allerdings wie das berüchtigte, mittlere, problembehaftete „Sandwichkind“ aka „Sandwichwerk“. Und handelten die beiden anderen von so vielen Dingen, handelt „Dr. No“ von nichts. Im wahrsten Sinne des Wortes. Denn der autistische Mathematikprofessor Wala Kitu (was „nichts nichts“ bedeutet) ist Spezialist für genau das: Nichts. Nun will der Schurke John Sill das Wissen von Wala nutzen, um den USA nichts anzutun, denn dies sei der mächtigste Weg als Schurke zu agieren, den es für ihn gibt. Reich ist er schon. Macht hat er dadurch auch schon. Was will er mehr? Rache! Und so entspinnt sich eine James-Bond-Parodie, die stark beginnt aber meines Erachtens eher schwach endet.

Vor allem aufgrund seiner Experimentierfreudigkeit als auch bösem Humor und absoluter Sprachvirtuosität ist Percival Everett einer meiner bevorzugten Autoren. Aber diese Experimentierfreudigkeit kann auch dazu führen, dass ein Buch nicht so wirklich funktioniert. Und leider ist dies hier geschehen. Die ersten Kapitel des Romans waren wirklich großartig und ich dachte, ein 5-Sterne-Buch vor mir zu haben. Wala ist unser Ich-Erzähler und er ist Autist. Die Gedanken und Dialoge dieses Menschen hat der Autor absolut authentisch erschaffen können. Eigentlich noch nie habe ich mich so wohlgefühlt mit einem Ich-Erzähler. Gerade in der ersten Hälfte des Romans besticht Everett damit, Wala mathematikphilosophische Monologe vom Feinsten zu entwerfen. Auch der bereits von ihm bekannte Humor findet Einzug in diesen Roman und ich musste so oft laut auflachen ob des trockenen Humors als auch der schieren Verrücktheit . Grandios. Aber eben hauptsächlich in der ersten Hälfte grandios.

Aber etwa zur Hälfte begann das Buch zu schwächeln. Alle lohnenswerten Witze waren gemacht, die philosophischen Elemente ausgeschöpft, die Bond-Parodie hatte ihren Lauf genommen. Der Rest des Buches wirkte wie eine uninspirierte Abarbeitung des Spoinageplots. Es gab noch ein paar andere Kleinigkeiten – Nebenhandlungen, die zu nichts führten, merkwürdige Charaktere, die spät in der Geschichte eingeführt wurden und keinen Zweck erfüllten –, die mir das Gefühl gaben, dass das Buch eine sorgfältigere Überarbeitung hätte gebrauchen können.

Ich würde den Roman dennoch wegen der cleveren Wortspiele und der unglaublich authentischen Erzählstimme des autistischen Protagonisten empfehlen und runde mit sehr viel Wohlwollen auf 4 Sterne auf. Aber Everett hat eindeutig schon Besseres geleistet. Ich hoffe somit, dass dieses Werk eher ein „Ausrutscher“ zwischen zwei großartigen Werken war und wir als nächstes wieder die bekannte Klasse von Everett erleben können.

3,5/5 Sterne