Eine Geschichte wie Zartbitterschokolade

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
europeantravelgirl Avatar

Von

Ich gebe es offen zu: Ich hatte von diesem Roman etwas anderes erwartet, nämlich eine spannende Jagd auf der Spur eines Geheimnisses. Aber ebenso freimütig möchte ich bekennen, dass ich in keinster Weise von dem enttäuscht bin, was ich stattdessen bekommen habe. Und das wäre? Eine zarte Geschichte, die vor allem von außergewöhnlich lebendigen Schilderungen lebt, Charaktere, in die man sich einfühlen und mit ihnen mitfühlen kann, und außerdem eine große Portion Nostalgie. Die heimlichen Hauptdarstellerinnen des Romans sind die Linden auf der Allee Unter den Linden in Berlin. Sie haben so einiges miterlebt im Verlauf der Zeit, und sie haben so einiges überlebt und überdauert. Nun im Jahr 1936 wehen Hakenkreuzflaggen zwischen ihnen. Berlin hat sich für die Olympischen Spiele herausgeputzt. Und weil die Welt auf Berlin schaut, wird für einen Moment auch die Ideologie zumindest vordergründig ein wenig unter den Teppich gekehrt. Aber nur vordergründig, denn im Hintergrund wird mit deutscher Gründlichkeit aufgeräumt und aussortiert.

Die Geschichte ist aufgebaut wie ein prächtiges Diorama von Unter den Linden, und wir dürfen neugierige Blicke hineinwerfen zu Elfie Wagner in der Chocolaterie Sawade, zum jüdischen Buchhändler Franz Marcus, zu der vornehmen Madame Conte in der Bel étage, und auch die von mir so verehrte Käthe Kollwitz wandelt durch die Seiten. Selten habe ich dermaßen detailverliebte und liebevolle Schilderungen etwa der Chocolaterie gelesen, dass der Laden förmlich vor dem inneren Auge in Farben, Geräuschen, Düften zum Leben erwacht.

Mit ruhiger Stimme erzählt Anne Stern von drei Tagen Unter den Linden, wie Menschen aus ihrem selbst erwählten Schneckenhaus kommen, sich verabschieden, aber nicht ohne noch zuvor ihr letztes Geheimnis zu offenbaren, oder wie zarte Bande geknüpft werden ohne Hoffnung auf eine unbeschwerte Zukunft. Doch man darf sich von dem gemächlichen Erzähltempo nicht täuschen lassen, es geschehen unerhörte Dinge. Menschen widerfährt tiefes Unrecht, Opportunisten profitieren vom Leid anderer.

Es ist eine ruhig erzählte, zarte Geschichte, die dem Leser tief ins Herz greift.