Kakaoduft und Kieselsteine: Wie drei Tage im Schnee den Blick aufs Leben verändern

Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern Voller Stern
babsiemarie Avatar

Von

Ein Glas, große Steine, Kieselsteine und ziemlich viel Sand: Aus diesen Zutaten lässt sich eine Geschichte über die wichtigen Dinge im Leben machen. Wer sie zuerst erzählt hat, ist nicht bekannt. Im Internet wird sie jedoch oft zitiert, wenn es um Selbstmanagement geht. Auch Ina Bhatter kann nicht widerstehen. Das Gleichnis wird zu einem Kern ihres Buches „Drei Tage im Schnee“. Drei Tage, in denen sich die Hauptfigur Hannah darüber klar wird, was in ihrem Leben wichtig ist.
Die Geschichte mit den Steinen im Glas mag ein wenig abgegriffen sein – die Art und Weise, wie Bhatter drumherum ihre Erzählung entwickelt, ist es nicht. In ihrer Schneeeinsamkeit macht Hannah die Bekanntschaft mit der kleinen Sophie. Deren kindliche Begeisterung und Unschuld bringen die erwachsene Frau zum Nachdenken und bisweilen in amüsante Erklärungsnöte. Zum Beispiel, als Hannah die Unsitte des permanenten Nachrichtenchecks am Smartphone rechtfertigt. Sie könne ja etwas Wichtiges verpassen. So wie Sonderangebote. Wenn eine Tasche reduziert sei, die sie möge, dann spare sie Geld, wenn sie diese kaufe. Sophie ist erstaunt: „Du kannst Geld sparen, wenn du Geld ausgibst?“ Und schon ist der erwachsene Selbstbetrug ad absurdum geführt.
Diese und andere Alltagsmuster zu hinterfragen, dazu regt Bhatter mit den Dialogen zwischen Hannah und Sophie an. Die Ältere dreht sich im Hamsterrad aus Arbeit, Selbstoptimierung, Konsumzwang und Sozialstress. Zu der Erkenntnis kommt sie unter anderem, als sie ihre Kosmetikartikel in der neuen Umgebung ihres Ferienhäuschens aufreiht. Alles dient dazu, etwas an ihr zu verändern: weniger Falten, weniger Gelbstich im Haar, mehr Fitness. Freude bereitet ihr nichts davon. Im Gegensatz zu den gemütlichen Kakaostunden mit Sophie. Die sind zwar nicht gesund, machen aber einfach nur Spaß. Lebendig schildert Bhatter die Zufriedenheit, die diese Treffen verströmen. Zunächst geht das nur von Sophie aus. Die Lesenden spüren die innere Ruhe des Mädchens in der Art, wie es andächtig in der Kakaotasse rührt, wie es sich ans Fenster setzt, nach draußen schaut und seinen „Blick langsam über die weiße Winterlandschaft wandern“ lässt.
Der Kontrast zwischen kindlicher Selbstvergessenheit und erwachsenem Gedankenkarussell, zwischen Landschaftsstille und Rastlosigkeit gibt dem Buch seinen lebendigen Rhythmus. Einer modernen Frau des 21. Jahrhunderts spricht es immer wieder aus der Seele. Da sind die Weiterbildungen zu dem Zweck, „Aufgaben besser zu priorisieren, schneller mehr Ergebnisse zu erzielen“. Da sind die Treffen mit Bekannten, bei denen die Zielsetzung „Netzwerken“ stets im Hintergrund lauert. Die sportliche Betätigung, um in die angesagte Jeans zu passen – und zu den Anforderungen einer gewinnorientierten Berufswelt.
In Sophie begegnet Hannah sich wieder selbst, besser gesagt: ihrem früheren Selbst. Sie erinnert sich wieder an die Dinge, die ihr früher Spaß gemacht haben. Dabei lässt es Bhatter nicht bewenden. Obwohl auch sie die Steine-im-Glas-Parabel verwendet, stellt sie eine andere Coaching-Weisheiten auf den Kopf: Lebe jeden Tag so, als wäre es dein letzter. Ein Kind, so erkennt Hannah, agiert anders. Selbstvergessen schmiedet es immer neue Pläne, so als läge unendlich viel Zeit mit unendlich viel Möglichkeiten vor ihm.
Das alles erzählt Bhatter in einer bildhaften Sprache. Die weiße Landschaft wirkt, als hätte Frau Holle sie ausgeschüttet, „Feuer knistert“, es riecht nach Milch und Holz. Die „Vitrine aus gemasertem, hellem Holz mit dem weißen Geschirr“ und ein „flauschiger, sandfarbener Läufer“ sorgen für die gemütliche Atmosphäre der Kakaostündchen. Die Kapitelüberschriften lesen sich wie Anregungen für die kalte Jahreszeit: „Schneeengel“, „Frühstücksei“, „Tannenzapfen“, „Schneeballschlacht“. Hannahs anfänglicher Verfassung entsprechend ziehen allerdings auch „Grautöne“ und ein „Schneesturm“ durch.
Hannah kommt nicht nur zu Erkenntnissen, sondern handelt auch danach. Symptomatisch dafür ist ein toll designtes Notizbuch, das Hannah gekauft, aber noch nie beschrieben hat. Nun reißt sie Seiten heraus, damit diese bemalt und beschrieben werden können. Unterm Strich ist es ein Buch, das man an einem verregneten Wochenende verschlingen kann – und das einen trotzdem länger beschäftigt, weil es Fragen und Anregungen aufwirft.