Schneeengel

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Wer im Herbst nach einer ruhigen und kurzen Erzählung sucht, die zum Einkuscheln im Sessel einlädt und für einige Stunden in eine stille, fast entrückte Welt entführt, könnte in Ina Bhatters Roman „Drei Tage im Schnee“ fündig werden. Das schmale Buch erzählt von einer jungen Frau, die sich für drei Tage in ein kleines Holzhaus zurückzieht, fernab der Großstadt und dem Lärm des Alltags. Ihr Ziel ist es, dem ständigen Trubel, der sie seit Jahren bestimmt, wenigstens für einen Augenblick zu entkommen. Bereits nach kurzer Zeit beginnt sie, die Abgeschiedenheit und das verlangsamte Lebenstempo zu schätzen.
Eine entscheidende Rolle spielt die Begegnung mit einem kleinen Mädchen, das vor dem Haus im Schnee spielt und dort ausgelassen seine Schneeengel in die weiße Fläche drückt. Diese scheinbar unscheinbare Begebenheit wird zum Schlüsselmoment: Die Erzählerin erinnert sich an ihr eigenes inneres Kind, an die Träume, die sie als Kind und Jugendliche hegte, und die sie im Laufe ihrer Karriere und ihrer rastlosen Suche nach „mehr“ längst aus den Augen verloren hat. Nach und nach erkennt sie, wie leer ihr ständiges Streben nach mehr Geld, mehr Anerkennung, mehr Liebe in Wahrheit ist – und dass sie dafür Opfer bringt, die sie in ihrem Innersten unglücklich machen.
Bhatters Roman braucht nur die titelgebenden drei Tage, um in der Protagonistin den Entschluss reifen zu lassen, ihr Leben grundlegend zu ändern. Diese kurze Zeitspanne genügt, um alte Sehnsüchte neu zu beleben, verdrängte Wünsche wieder freizulegen und die Einsicht wachsen zu lassen, dass sie nicht länger einem Lebensentwurf folgen will, der von außen diktiert wird.
Schon das Format des Buches verweist darauf, dass es weniger als ein klassischer Roman angelegt ist, sondern vielmehr als Geschenk- oder Erbauungsbuch gedacht scheint. Es ist eine jener Geschichten, die den Leser an das erinnern wollen, was im Leben wirklich zählt. Mit Zuspruch, sanften Ermahnungen und einer gewissen Wärme wird er ermutigt, das eigene Leben in die Hand zu nehmen, sich nicht von der Gesellschaft treiben zu lassen und wieder den Blick für das Wesentliche zu gewinnen.
In dieser Tradition steht Bhatters Text nicht allein. Werke wie John Streleckys „Das Café am Rande der Welt“, Sergio Bambarens Erzählungen oder auch Paulo Coelhos berühmter „Alchimist“ bedienen ein ähnliches Bedürfnis. Alle vermitteln im Kern dieselbe Botschaft: Verwirkliche deine Träume, statt dich in einem Leben zu verlieren, das dir von Werbung, Konventionen und gesellschaftlichem Druck aufgezwungen wird. Auch „Drei Tage im Schnee“ bietet inhaltlich nichts radikal Neues, sondern reiht sich in diese Literaturgattung ein. Doch vielleicht liegt seine eigentliche Stärke gerade darin, altbekannte Erkenntnisse neu ins Bewusstsein zu rufen.
Für Leser, die selbst in einem unglücklichen Strudel aus Stress, Überforderung und Selbstentfremdung gefangen sind, kann das Buch ein Impulsgeber sein. Es hält den Spiegel vor und vermittelt die Botschaft: Veränderung ist möglich – und manchmal braucht es dafür nur einen kleinen Anstoß. Wer jedoch bereits einen ähnlichen Weg der Selbstreflexion hinter sich hat oder mit den erwähnten Klassikern vertraut ist, wird hier wohl kaum Neues entdecken.
Literarisch steht der Roman seinen Vorbildern nicht zwingend nach, doch in seiner Thematik wirkt er stellenweise wie eine Wiederholung bekannter Muster. Hinzu kommt, dass die Glaubwürdigkeit der Handlung etwas schwächelt. Die Geschwindigkeit, mit der die Protagonistin von hektischem Leistungsstreben in tiefes Nachdenken stürzt und schließlich konkrete Entscheidungen für ein neues Leben trifft, wirkt konstruiert. Dass ein einziges Mädchen, das nicht einmal besonders detailliert beschrieben wird, genügt, um solch einen radikalen Wandel auszulösen, erscheint wenig plausibel. Realistischer wäre es, wenn die Begegnung zwar ein Auslöser wäre, die eigentliche Veränderung jedoch erst nach längerer Zeit reifen würde – vielleicht auch unter Rückfällen in alte Gewohnheiten.
Am Ende will Bhatters Erzählung ein wenig zu viel. Sie möchte gleichzeitig aufzeigen, was im Leben falsch läuft, und zugleich illustrieren, wie eine neue Art des Denkens sofort Veränderung bewirken kann. Dabei bleibt der Realismus auf der Strecke. Dennoch erfüllt „Drei Tage im Schnee“ seinen Zweck: Es reiht sich ein in die Vielzahl an Büchern, die mit allgemeinen Lebensweisheiten Mut machen wollen, und kratzt – wie viele andere Vertreter dieses Genres – zwar nur an der Oberfläche, bietet aber vielleicht dennoch kurzzeitig Trost und Inspiration.
Für jene, die eine kleine, nachdenkliche Lektüre für einen ruhigen Herbstabend suchen, ist Bhatters Roman durchaus geeignet. Er schenkt ein paar Stunden der Einkehr, erinnert an verlorene Träume und lädt dazu ein, das eigene Leben für einen Moment aus einer anderen Perspektive zu betrachten – auch wenn er dabei keine neuen Wahrheiten offenbart.