Ein Moment der Wut - die lebenslange Bürde eines Totschlags - ein großartiger Roman

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Antoine hat sich mit Theo und seinen Freunden im Wald ein Baumhaus gebaut. Doch als einer der Jungen eine Playstation geschenkt bekommt, hocken die Jungen nur noch bei ihm und Antoine bleibt allein. Antoine steckt mit 12 Jahren wie zwischen Baum und Borke. Während sein Baumhaus noch fest in einer kindlichen Abenteuerwelt verankert ist, nimmt er bereits die körperliche Entwicklung der pubertierenden Émilie wahr. Antoine muss sich nun nicht mehr mit Theo als selbst ernanntem Anführer herumschlagen. Er beginnt ein gewaltiges Bauprojekt, in das er sogar eine Seilrolle integriert, um Odysseus hochzuziehen, den Hund der Nachbarn. Odysseus ist wie ein Gefährte für ihn, Antoine darf selbst keinen Hund halten. Als Spielkamerad bleibt ihm nur der 6-jährige Rémi, der ihm vertrauensvoll in den Wald folgt. Nachdem Monsieur Desmedt vor Antoines Augen den Hund Odysseus getötet hat, zerstört Antoine in einem gewaltigen Wutausbruch die Hütte und erschlägt im Affekt Rémi. Die Suchaktion nach dem Kleinen bleibt erfolglos; denn Antoine hat die Leiche versteckt und verschweigt, dass Rémi mit ihm im Wald war. Selbst wenn die Polizei Antoines Version der Ereignisse glauben würde, bliebe immer noch die Frage, wie ein Zwölfjähriger ohne Hilfe Erwachsener mit der Schuld weiterleben soll, dass er getötet hat.

Die Tat und Antoines erste Lüge wirken wie ein Stein, den man ins Wasser wirft und um den sich größer werdende Kreise bilden. Diese Ringe entstehen aus der Reaktion der Mutter auf Antoines auffälliges Verhalten nach der Tat, die schwierige wirtschaftliche Situation im Dorf, falsche Verdächtigungen untereinander und die Folgen des Orkans Lothar (1999). Feuerwehr und Bürgermeister können die Suche nach Rémi nicht fortsetzen, weil sie mit den Schäden durch den Orkan ausgelastet sind. Antoines Tat scheint vorerst unentdeckt zu bleiben, doch die Erinnerung an Rémis Tod wird ihn nicht mehr loslassen. Der Junge verlässt das Dorf so bald wie möglich und kehrt erst 12 Jahre später zu einer Feier zurück. Antoine ist im letzten Studienjahr seines Medizinstudiums. Er plant, als Arzt in ein unterentwickeltes Land zu gehen und damit eine möglichst große Distanz zwischen sich und seinem Heimatdorf zu schaffen. Rein juristisch ist Mord in Frankreich nach 10 Jahren verjährt, doch für den, der niemals reinen Tisch gemacht hat, stellt sich das anders dar. Nachdem der mittlere Teil des Romans für Antoine die Vergangenheit wieder aufgewühlt hat, entwickelt der überraschende Schluss beinahe Krimi-Qualität.

In einfacher Sprache lässt Pierre Lemaitre einen auktorialen Erzähler Antoines Ängsten und Alpträumen bis ins Erwachsenenalter folgen. Erschreckend fand ich von Beginn an die Zwangsläufigkeit der Ereignisse, die sich bereits ankündigen in der stoischen Art, in der Mutter und Sohn auf die Trennung vom Vater reagieren. Mit Antoines Heranwachsen und seiner Distanz zum Mikrokosmos Dorf schleicht sich jedoch zunächst eine bissige Note in den Erzählton, gefolgt von einer Prise Krimi. Der feinfühlige Einblick in die Gefühle eines Jugendlichen war für mich der stärkste Teil eines insgesamt großartigen Buches.