Freiheit oder Heimat?

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caillean79 Avatar

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Wenn du nur 3 ½ Stunden Zeit hast zu entscheiden, wie dein weiteres Leben aussehen soll – was würdest du tun? Wählst du die Freiheit und gibst dein bisheriges Leben komplett auf oder kehrst du in dein vertrautes Umfeld zurück und opferst deine Selbstbestimmung? 

 

Eine schwierige Entscheidung, die die Passagiere des Interzonenzuges München – Berlin am 13.08.1961 treffen müssen. Während sie aus den unterschiedlichsten Gründen in München gewesen sind und nun die Rückreise angetreten haben, sickert langsam ein Gerücht im Zug durch: die bauen eine Mauer! Wenn wir jetzt im Zug bleiben, können wir die DDR vielleicht nie wieder verlassen… nie wieder die Schwester, den Sohn, die Eltern im Westen besuchen. Was soll man nun tun? Noch 3 Stopps trennen den Zug von der Überfahrt in die DDR. Noch 3 Gelegenheiten, um eine Entscheidung zu treffen. Die Lage im Zug und die inneren Kämpfe der Passagiere spitzen sich mit jedem Halt zu. Und dann steht der Zug vor der Grenze und wartet auf die Lokführerin aus der DDR, die den Zug übernehmen und nach Berlin fahren soll. Die allerletzte Chance, sich für die Freiheit zu entscheiden…

 

Robert Krause hat mit diesem Buch (und dem dazugehörigen Film, für den er das Drehbuch verfasst hat) den Mauerbau aus einer sehr interessanten Perspektive beleuchtet: der Zug ist ein Mikrokosmos von Schicksalen, die alle eine gewisse Beziehung zum westlichen Deutschland haben. Und jede dieser Personen hat nur diese 3 ½ Stunden, um eine Entscheidung zu treffen. Wobei es nicht nur um denjenigen selbst geht, sondern immer auch um die Menschen, die er/sie liebt. 

 

So stellen sich die Mitglieder einer Band die Frage, ob sie aussteigen sollen – jeder für sich. Aber bringt es etwas, wenn sie nicht alle gemeinsam gehen? Denn nur als vollständige Band könnten sie auch im Westen versuchen durchzustarten. Eine Familie mit zwei Kindern droht an der Entscheidung zu zerbrechen. Eine junge Sportlerin hinterfragt die Beziehung zu ihrer mitreisenden Trainerin – und deren Methoden. Und nicht zuletzt hört auch die junge Lokführerin aus der DDR, die den Zug an der Grenze übernehmen soll, von den Plänen der Regierung. Auch für sie wäre der Grenzübertritt die letzte Chance, sich für ihre persönliche Freiheit zu entscheiden.

 

Das Buch lebt von der Spannung des Zeitmangels und der sich verdichtenden Handlung, je näher der Zug der deutsch-deutschen Grenze kommt. Das ist sehr clever konstruiert und sorgt dafür, dass es keinen Durchhänger gibt, keine Seite, die langweilig wäre. Dazu werden von den Figuren die Argumente für und gegen eine Flucht abgewogen, so dass man merkt, wie schwierig diese Entscheidung wirklich war. Ich denke, den meisten war schon bewusst, dass die Errichtung der Mauer einen Wendepunkt darstellen würde. Dass Zugfahrten in den Westen, Verwandtenbesuche usw. vielleicht künftig gar nicht mehr möglich sein würden. Aber die Unsicherheit wiegt bei vielen schwer – soll man im Westen wirklich noch einmal von Null anfangen? 

 

Am Ende trifft jede und jeder eine Entscheidung. Ob die gut oder schlecht war, wird sich wohl erst lange Zeit später zeigen. Aber in diesem Buch geht es weniger ums Ergebnis als vielmehr um den schweren Prozess der Entscheidungsfindung. Ein mitreißender, aufwühlender Roman, der uns zeigt, dass auch frühere Generationen abseits von Corona und Co. unheimliche Herausforderungen zu bewältigen hatten. Und dass wir darauf mit viel Respekt schauen sollten.