Heimat oder Freiheit, eine schwere Entscheidung

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elke seifried Avatar

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Ich bin im Westen, ohne Verwandte oder Bekannte in der ehemaligen DDR aufgewachsen und war noch ein kleines Kind als die Mauer fiel. Ich interessiere mich daher stets für die Alltagsgeschichte aus dieser Zeit und die Frage, wie hätte ich mich wohl entschieden, Bleiben oder Flucht, habe ich mir beim Lesen zu dem Thema schon oft gestellt. Aussteigen oder nicht, ist hier die Frage, und eine Antwort alles andere als leicht, denn es gilt, „Alle, die jetzt gingen, verloren ihr Zuhause. Alle, die weiterfuhren, ihre Freiheit.“

Marlies, ihr Ehemann Gerd mit Tochter Elke und Sohn Willi, Carla, Sascha, Siggi und Peter, die vier Bandmitglieder, Anna und ihr Ehemann Gerd, Ingrid deren Sohn Hans und ihr zukünftiger Ehemann Rudolf und schließlich Polizist Arthur, kurze Zeit auch dessen Kollege Andi, sind die Personen im Interzonenzug nach Ostberlin, um die sich diese Geschichte kreist. Dazu gesellen sich noch Marlies Vater Paul, der als Major Fuchs bei der Volkspolizei nicht nur auf seine Tochter wartet, sondern auch entscheiden muss, ob in Berlin gegen die Protestanten Panzer aufgefahren werden, und auch Edith, die Lokführerin, die von Kurt interviewt wird und den Zug im Westen abholen muss. Wo wird am Ende der Geschichte, deren Platz sein?

Als Leser lernt man die einzelnen Charakter kennen, erfährt warum sie sich in dem Zug befinden und erlebt die Fahrt und damit den Count Down bis zur finalen Entscheidung Osten oder Westen, wo wird meine Zukunft sein, mit. Existenzängste haben müssen versus eines geregelten Auskommen, Homosexualität im Westen noch verboten, im Osten bereits toleriert, dort wo auch eine Lokführerin, trotz harter körperlicher Arbeit ein für Frauen ein durchaus gängiger Beruf ist, während im Westen Frauen noch ihren Ehemann um Erlaubnis fragen müssen, ob sie denn überhaupt arbeiten gehen dürfen, das sind einige der Fragen, um die sich die Entscheidungen drehen und nicht nur damit erhält man als Leser bzw. Hörer, obwohl sich die ganze Handlung im Mikrokosmos Zug abspielt, zudem einen gelungenen Einblick ins Alltagsleben der Menschen sowohl im Westen als auch im Osten.

Der einnehmend, anschauliche Schreibstil hat mich sofort mit in den Zug genommen und die Geschichte hautnah miterleben lassen. Man merkt deutlich, dass der Autor auch Drehbücher, bzw. zumindest das Drehbuch zum gleichnamigen Film verfasst hat. Den brauche ich wohl allerdings jetzt gar nicht mehr, so genau konnte ich mir alles ausmalen. Der Roman wird in kurzen Abschnitten abwechselnd aus allen Perspektiven erzählt. Das ist, um alle besser zu verstehen und um eine möglichst breite Palette an Einstellungen und Meinungen, die das Handeln, die die Entscheidung aussteigen oder ohne Möglichkeit zur Rückkehr weiter nach Ostberlin fahren, beeinflussen, bieten zu können, natürlich vom Autor geschickt gewählt. Da die Perspektiven sich aber oft und schnell abwechseln, die Anzahl der Charaktere nicht gering ist und ich sowieso ein extrem schlechtes Namensgedächtnis habe, hatte ich meine Probleme, mich in der Geschichte einzufinden, mir einen Überblick über die Mitspieler zu verschaffen und diesen dann auch zu behalten. Das machte mir das Lesen zumindest am Anfang nicht wirklich zu einem entspannten Vergnügen, Es war durchaus Konzentration erforderlich und ohne meinen Notizblock wäre ich wohl nur schlecht zu Rande gekommen. Schon alleine die Frage, wie werden sich die Einzelnen entscheiden, schafft natürlich eine Grundspannung, die mit dem Nähern der Grenze stetig zunimmt und am Ende durch geschickte Wendungen fast zum Zerreisen hoch ist. Einige gut gehütete Geheimnisse kommen zusätzlich ans Tageslicht und sorgen so für Überraschungen, vorhersehbar sind daher nur wenige Entscheidungen, und über mangelnde Spannung kann man wahrlich nicht klagen.

Ein Stasi Mitglied, das durch seine Tätigkeit für sich und ein paar andere eine Reise in den Westen ermöglicht hat, ein von der DDR Enttäuschter, weil sie ihm die Aufgabe und den Job genommen haben mit einer Frau, die vom System und dem Kampf gegen den Kapitalismus fest überzeugt ist, eine Frau die zwischen ihrem Sohn im Westen und ihrem Mann und dem Osten entscheiden muss. Bandmitglieder, die im Osten ein geregeltes Einkommen haben, im Westen womöglich wenig Erfolg, einer im Osten, der von Hollywood träumt, sehr gut gefällt mir die große Bandbreite an Einstellungen, die der Autor hier in seinem Roman, abdeckt. Er bietet damit einen gelungenen Querschnitt durch die damalige Bevölkerung. Die einzelnen Charaktere sind äußerst authentisch dargestellt und die Entscheidungen, samt der Gedankenkreisel, die diesen vorangehen, durchaus nachvollziehbar gezeichnet.

Die Vielzahl an Akteuren und die vielen Perspektivwechsel, machen den Roman natürlich auch nicht unbedingt zur besten Vorlage für ein Hörbuch. Der Argon Verlag hat meiner Meinung nach jedoch das Bestmögliche daraus gemacht. Schon die Tatsache, dass es sich um zwei Sprecher handelt, erleichtert es dem Hörer ungemein, mit den schnellen Wechseln der Perspektiven zurecht zu kommen. Robert Frank, kenne und schätze ich als Sprecher schon lange. Tanja Fornaro, die mir bis dato unbekannt war, und er sind mit ganz viel Herzblut am Werk und transportieren die sich zuspitzende Atmosphäre dabei äußert gekonnt. Ich habe den beiden mir sehr angenehmen Stimmen sehr gerne zugehört.

Alles in allem ein spannender Roman, der mich gekonnt unterhalten hat. 4,5 Sterne wegen meiner Startschwierigkeiten, die allerdings mehr zu fünf als vier tendieren.