Zwischen Gehen und Bleiben

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möp Avatar

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„Alle, die jetzt gingen, verloren ihr Zuhause. Alle, die weiterfuhren, ihre Freiheit.“
Seite 131

„Dreieinhalb Stunden“ erzählt die Geschichte einer Bahnfahrt. Am 13. August 1961 fährt der Interzonenzug D-151 in München los in Richtung Ost-Berlin. In den Abteilen sitzen Eltern mit ihren Kindern, junge und alte Paare, eine Spitzenturnerin mit ihrer Trainerin, eine gut gelaunte Band und zahlreiche andere Menschen, deren Heimat die DDR ist. Sie alle wollen eigentlich nur noch eines: Nach Hause. Doch dann verbreitet sich die erschütternde Nachricht wie ein Lauffeuer: An der Grenze von DDR und BRD wird eine und durchdringliche Mauer gebaut. Alle, die in die DDR zurückfahren wollten, müssen nun eine Entscheidung treffen. Fahren sie weiter, zurück in die DDR? Oder nutzen sie diese letzte Chance, noch vor der Grenze aus diesem Zug auszusteigen und ein neues, freies Leben in der BRD zu beginnen? Für diese Entscheidung bleiben ihnen nur noch dreieinhalb Stunden, denn dann hält der Zug zum letzten Mal in der BRD. Die Zeit drängt.

„Noch nie in ihrem Leben war ein Stehenbleiben so ein Weitergehen gewesen. Ein Weitergehen in eine neue Zukunft, ohne Wiederkehr.“
Seite 192

Man merkt den Worten des Autors Robert Krause deutlich an, dass er bislang als Regisseur und Drehbuchautor gearbeitet hat. Denn seine Sprache ist ausdrucksstark, sie erschafft lebendige Bilder und lässt vor meinem inneren Auge sofort einen Film ablaufen. Von der ersten bis zur letzten Seite konnte ich das stetige Rattern des Zuges und das ohrenbetäubende Dröhnen der Presslufthämmer hören; ich konnte die Verzweiflung, aber auch die Erleichterung in den Gesichtern der Passagiere sehen. Ich war mit ihnen hin und her gerissen zwischen Gehen und Bleiben.
Die Geschichte wird aus verschiedenen Perspektiven erzählt und ermöglicht so tiefe Einblicke in die verschiedenen Charaktere, ihre Vergangenheit und ihre Beweggründe – fürs Aussteigen oder Weiterfahren. Die zahlreichen Perspektivwechsel ermöglichen einen durchweg gelungenen Spannungsbogen, der bis zum Schluss aufrecht erhalten bleibt und mit diversen Wendungen zu überraschen vermag. Ich persönlich war völlig gebannt von dem Dilemma, in dem sich die Reisenden befinden und konnte „Dreieinhalb Stunden“ kaum aus der Hand legen. Besonders gefallen hat mir, dass der Autor wie beiläufig sein gründlich recherchiertes historisches Hintergrundwissen in die Geschichte einstreut und mit müheloser Leichtigkeit zum Nachdenken über die großen Fragen des Lebens anregt: Was ist Freiheit? Welchen Wert hat Freiheit für mich?

Am 7. August 2021 wird der gleichnamige Film in der ARD ausgestrahlt und ich kann es kaum erwarten.

Fazit
Alles in allem ein ebenso fesselnder wie bewegender Roman über einen Zug zwischen zwei Welten! Ich empfehle „Dreieinhalb Stunden“ uneingeschränkt weiter an all jene, die sich auf eine ganz besondere Weise mit diesem Stück deutscher Geschichte auseinandersetzen möchten.