Die Möwe über seinen Augen

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"Dreißig Jahre hat Huseyin in Deutschland gearbeitet, nun erfüllt er sich endlich seinen Traum: eine Eigentumswohnung in Istanbul. Nur um am Tag des Einzugs zu sterben. Zur Beerdigung reißt ihm seine Familie aus Deutschland nach. Jede dieser unvergesslichen Figuren hat ihr eigenes Gepäck dabei: Geheimnisse, Wünsche, Wunden." (Klappentext)

Da liegt er, Hüseyin, und hinterlässt im Blicke seiner Möwe die Dschinns seiner Familie - die Ungewissenheiten, die sich brodelnd aufbäumen, um mit der Wahrheit zu drohen, weder gut noch böse, irgendwo im Nirgendwo, in der Menschlichkeit verborgen.
Jede Figur aus seiner Familie erhält für seine Suche eine ganz eigene, fesselnde Erzählstimme und Hüseyin blickt mit seiner Möwe zwischen den Augen als unsichtbarer Beobachter auf die Aufbrechung des ewig wehrenden Schweigens. Die Möwe gleitet dabei lautlos in wandelnden Gefühlsausdrücken über den Bosporus: lächelnd vor Freude sich hoch ziehend, gleichgültig still, traurig, weiß und alt, aufgeschreckt, trauernd. Ein unglaublich gehaltvolles Bild für die Gefühle eines Menschen.

Fatma Aydemir schafft mit ihren unterschiedlichen Stimmen einen bemerkenswert dramaturgischen Spannungsbogen. Ganz dezent webt sie mit kunstvollem Feingefühl zahlreiche, aktuelle Thematiken als reale Gegebenheiten in ihre authentischen Charaktere ein, ohne dass diese sich gegenseitig stören, eher ein Band bilden, da sie ganz beiläufig aus der Alltagsperspektive des schwindelerregenden Lebens erzählt werden.
Humorvoll, bissig, tragisch und traurig zugleich, ohne den Zeigefinger zu heben, schafft sie ein spielerisch poetisches Lexikon der Identifikationsmöglichkeiten und zieht kräftig an den verbindenden sowie trennenden Seilen kultureller Einflüsse.
Das gesprochene Wort fliegt mit der Möwe davon!