Gefangen in der Sprachlosigkeit

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„Vielleicht ist Familie ja nichts anderes als das, ein Gebilde aus Geschichten und Geschichten und Geschichten. Aber was bedeuten dann die Leerstellen in ihnen, das Schweigen? Sind sie die Lücken, die das ganze Konstrukt am Ende zum Einsturz bringen werden? Oder sind sie die Luft, die wir zum Atmen brauchen, weil die Wahrheit, die ganze Wahrheit, unmöglich zu ertragen wäre?“

Nach 30 Jahren in Deutschland erfüllt sich Hüseyin nun kurz vor der Rente seinen Traum: Er kauft von seinem hart erarbeiteten Geld eine Eigentumswohnung in Istanbul. Nur um am Tag des Einzugs an einem Herzinfarkt zu sterben. Statt zur Wohnungseinweihung reist seine Familie nun also zur Beerdigung an. In einer Familie, die im Schweigen erstarrt war, enthüllen sich sechs grundverschiedene Schicksale.

Man merkt Aydemirs Roman an, dass er viel will. In jedem Abschnitt kommt ein anderes Familienmitglied zu Wort, und so sehr man sich auf die nächste Perspektive freut, so schwer fällt auch immer der Abschied von einer gerade erst kennengelernten Figur. Die Figuren, das sind die Eltern Hüseyin und Emine und die vier Kinder Sevda, Peri, Hakan und Ümit. Jeder dieser Charaktere hat sein Päckchen zu tragen, und nur manchmal beschlich mich das Gefühl, dass Aydemir ihren Figuren etwas unrealistisch viele Bürden aufgeladen hat. Es las sich stellenweise, als hätte sie versucht, möglichst viele identitäre und soziale Probleme in eine Migrationsgeschichte zu verpacken.

Interessanterweise schafft sie es, die Stereotype, die sie evoziert, konsequent und ohne Kitsch zu brechen. Es wirkt manchmal, als hätte Aydemir sich einen Katalog mit typischen Laufbahnen zugewanderter Türken erster/zweiter/dritter Generation zugelegt. Und dann an den richtigen Stellschrauben gedreht, um etwas ganz Neues, ganz Eigenes zu erschaffen, das wiederum gar nicht stereotyp wirkt. Das Individuelle im Universellen, das Universelle im Individuellen. Und so erzeugt das Buch eine Nähe zur Realität, die schmerzt.

Die meisten Figuren waren für mich unbequem, insbesondere Emine ist ein hochproblematischer Charakter. Bewundernswerterweise hat Aydemir den Mut, das auch genauso stehen zu lassen. Es löst sich nicht alles in Wohlgefallen auf, die Charaktere machen keine unrealistischen 180-Grad-Kehrtwenden, sondern kommen nur mühsam voran und erkennen nur schrittweise, wo sie im Leben vielleicht falsch abgebogen sind. Die Sprachlosigkeit, mit der sicherlich jede Familie zu kämpfen hat, ist ein Kernthema des Buches, und sie kann nur langsam und durch große Anstrengungen durchbrochen werden.

Insgesamt hätte der Story ein bisschen weniger Drama nicht geschadet, aber durch die wechselnden Erzählstimmen, die Aydemir meisterhaft versprachlicht, entsteht ein unwiderstehlicher Lesesog. Ich wollte immer wissen, wie es weitergeht, auch wenn mich selten etwas Schönes erwartete. Hoffnungsschimmer gibt es in diesem Buch nur wenige, man muss sich also durchaus auf ein bedrückendes Leseerlebnis einlassen können. Aber das Wichtigste, was Aydemir mit ihrem großen Familienroman geschafft hat, ist das Sichtbarmachen. Sie erzählt eine Migrationsgeschichte, mit der viele familiäre Probleme verknüpft sind - aber bei Weitem nicht alle. Und so wird sich jede*r zu einem gewissen Grad in diesem Buch wiederfinden.