Geheimnisse und Geister

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bobbi Avatar

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Was hält eine Familie zusammen und was bringt sie auseinander? Mit ihrer intensiven interkulturellen Familiengeschichte „Dschinns“ greift Fatma Aydemir auf herausragende und ergreifende Weise gesellschaftsrelevante Themen auf und verwebt diese in ein berührendes Puzzle voller unausgesprochener Geheimnisse innerhalb einer deutsch-türkischen Familie.

Nach 30 Jahren schwerer Gastarbeit in Deutschland ermöglicht sich Familienvater Hüseyin endlich den Kauf einer Wohnung in Istanbul – doch den ersehnten Einzug wird er nicht mehr erleben und stirbt an einem Herzinfarkt. Er hinterlässt seine vier Kinder und tief trauende Ehefrau Emine – wer es einrichten kann, fliegt nach Istanbul, um Baba zu beerdigen. Der Tod und die Reise brechen bei allen Angehörigen tiefe Wunden und Verletzungen auf, die Aydemir nun mit einzelnen feinsinnig-poetisch nuancierten Blickwinkeln aufrollt. Treffsicher und ohne rührselig zu werden, lässt sie in einem Mix aus Gegenwart und Vergangenheit tief in seelische Traumata und Verdrängtes blicken sowie auf die schmerzhafte Migration in ein ausländerfeindliches Deutschland. Die kurdische Herkunft wird verschwiegen, Tochter Sevda erst später nach Deutschland geholt und Mutter Emine kämpft mit Depressionen und Missmut, während der jüngste Sohn Ümit seine Homosexualität gewaltvoll leugnet.

Klug und präzise komponiert kommen anfangs und zum Ende auch die Dschinns zu Wort – diese mythologische Geisterwesen können aus einer Art Zwischenwelt Einfluss auf das Wesen eines Menschen nehmen. In Aydemirs kraftvoll geschilderten Erzählung sind es eher die Traumata, Geheimnisse und Leerstellen einer Familie, die nie gelernt hat miteinander ehrlich zu kommunizieren.

„Vielleicht sind das die Dschinns, die Wahrheiten, die immer da sind, die immer im Raum stehen, ob man will oder nicht, aber die man nicht ausspricht, in der Hoffnung, dass sie einen dann in Ruhe lassen, dass sie im Verborgenen bleiben für immer.“ S. 193

Ein kraftvoller und packender Roman voller psychologisch feinfühligen Beobachtungen und tiefsinnigen Themen zwischen Adoleszenz, Migration und Interkulturalität – literarisch brillant und authentisch umgesetzt. Absolut lesenswert!

„Vielleicht ist Familie ja nichts anderes als das, ein Gebilde aus Geschichten und Geschichten und Geschichten. Aber was bedeuten dann die Leerstellen in ihnen, das Schweigen? Sind sie die Lücken, die das ganze Konstrukt am Ende zum Einsturz bringen werden?“ (S. 189)