Großer Familienroman einer Erzählkünstlerin

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lillywunder Avatar

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Manchmal ist es mit Büchern wie mit Menschen. Man sieht die kleinen Dinge, die man an ihren kritisieren könnte, aber sie fallen einfach nicht ins Gewicht, sie ändern nichts, weil das Buch oder die Person eben schon längst den Weg ins eigene Herz gefunden hat. Dschinns hatte dorthin keinen weiten Weg, die Erzählweise von Fatma Aydemir hat mich total erreicht, berührt, eingenommen.

Aydemir erzählt die Geschichte einer Familie, die in den 1970er Jahren von der Türkei nach Deutschland zog. Der Vater, Hüseyin, kam damals als Gastarbeiter und arbeitete 30 Jahre lang bis zur Erschöpfung für seinen Lebenstraum, ein Eigenheim in Istanbul. Um dann, als er dieses Ziel endlich erreicht hat und stolz die Wohnung für seine Familie vorbereitet, alleine an einem Herzinfarkt zu sterben - die Mutter und die vier Kinder reisen zur Beerdigung hinterher.

So weit, so tragisch. Und tatsächlich spart der Roman nicht an großen Gefühlen, nein, er ist reichlich großzügig mit der Dosierung von dramatischen Familiengeheimnissen und einschneidenden Wendungen auf seinen 367 Seiten. Jedes Familienmitglied schultert ein riesiges eigenes Päckchen und mit ein bisschen Abstand zur Lektüre ließe sich durchaus kritisieren, dass dabei ungefähr kein aktueller identitätspolitischer Diskurs ausgelassen wird und dass der ein oder andere Charakter ein wenig klischeebehaftet bleibt, um allzu deutlich gesellschaftliche Missstände abbilden zu können.

Aber. Ich liebe es, wie Fatma Aydemir schreibt. Wie einfühlsam sie ihre Figuren behandelt, wie behutsam sie die Verletzungen, die Unsicherheiten, die Ängste beschreibt, mit denen die einzelnen Familienmitglieder zu kämpfen haben, während die nächste familiäre Katastrophe über sie hineinbricht. Klischees hin oder her, jeder einzelne Charakter wird hier so sehr mit Leben gefüllt, dass man gar nicht umhin kann, sie als absolut authentisch zu erleben. Jedem Familienmitglied wird ein einzelnes Kapitel gewidmet, eine eigene Stimme, die Aydemir sowohl stimmig in die im besten Sinne epische Familiengeschichte einfügt als auch in berührend lebendige Dialoge. Mal unheimlich sanft, mal erschreckend schmerzhaft ergründet Aydemir die Gründe und Abgründe einer Familie, die zu wenig miteinander spricht, und erhellt so das Thema des familiären Schweigens, welches für mich das Herz dieses wunderbaren Romans ist und spürbar durch alle Seiten pulsiert.