Im Gestrüpp der familiären Erwartungen

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Dreißig Jahre lang hat Hüseyin in Deutschland auf diesen Moment hingearbeitet: endlich eine eigene Wohnung in der Türkei besitzen, in Istanbul, eine große Wohnung mit genug Platz für die ganze Familie. Doch viel Zeit bleibt ihm nicht, eine Woche nach Erfüllung seines Lebenstraums und nur eine Woche vor seinem Renteneintritt stirbt er in ebendieser Wohnung an einem Herzinfarkt. Sein Tod führt die restlichen Familienmitglieder zusammen: seine Ehefrau Emine und seine vier Kinder Ümit, Sevda, Peri und Hakan. Jedes Familienmitglied erzählt die Geschichte aus seiner Perspektive, allerdings werden die Geschichten der Eltern, die diejenigen der Kinder einrahmen, von einer nicht näher definierten Stimme erzählt, die die beiden jeweils direkt anspricht.
Fatma Aydemir verknüpft die verschiedenen Erzählungen geschickt zu einem großartigen Familien- und Gesellschaftsroman, es geht um Identität und Rassismus, Sprachlosigkeit, die mit dem Verlust der eigenen Sprache einhergeht, und Familiengeheimnisse, die weite Kreise ziehen und ungeahnte Auswirkungen auf die nachfolgende Generation haben. Die Autorin zeigt anhand der Figuren, wie die gesellschaftlichen und familiären Erwartungshaltungen eine innere und äußere Starre hervorrufen, die kaum zu überbrücken ist. Jede Figur kämpft mit ihren Verletzungen, möchte gesehen und anerkannt werden und schafft es doch nicht, die Strukturen zu durchbrechen. Handlungen und Konflikte aus der Vergangenheit wirken sich bis in die Gegenwart aus, ohne dass sie von allen als solche erkannt werden. Aydemir legt geschickt Fährten und schafft es so, bis zum fulminanten Ende eine unterschwellige Spannung aufzubauen, die dazu führt, dass man das Buch kaum aus der Hand legen mag. Mir ist es lange nicht mehr passiert, dass ich so in einem Buch versinken konnte und am Ende mit Tränen in den Augen, aber absolut begeistert wieder aufgetaucht bin. Dabei ist dieser Roman weder literarisch noch sprachlich besonders innovativ, sondern eine handwerklich sehr gut gemachte klassische Familiengeschichte, die eine Vielzahl von Themen anschneidet, ohne dabei aber jemals überfrachtet zu wirken. Und vielleicht ist es ja genau das, was ich dringend mal wieder gebraucht habe: einen Roman, der mich alles um mich herum vergessen lässt. Von daher auch von mir eine absolute Leseempfehlung!


„Vielleicht heißt, sich vor den Dschinns zu fürchten, nicht unbedingt zu verstehen, was ein Dschinn ist. Ist das nicht so wie mit dem Tod? Das Vage, das Ungewisse, das Dunkle, das die Menschen verängstigt, weil es nichts Greifbares ist, weil sie es mit ihren eigenen Fantasien ausfüllen müssen und nichts erbarmungsloser ist als die eigene Fantasie?“