Intensives Familienporträt zwischen den Kulturen

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gela_hk Avatar

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Nach einem harten "Gastarbeiterleben" zieht es Hüseyin zurück nach Istanbul. Hier möchte er seiner Familie endlich etwas bieten und richtet mitten in der Stadt eine große Wohnung her. Bevor seine Frau und Kinder die Wohnung mit ihm beziehen, erleidet er einen tödlichen Herzinfarkt. Die Familie ist schockiert und reist in die Türkei, die ihnen fremd geworden ist.

Fatma Aydemir rechnet schonungslos mit vielen Klischees ab. Der Schreibstil des Romans ist schnörkellos, realistisch und öffnet den LeserInnen die Augen. Es ist eine Herausforderung, die ich gern angenommen habe. Selten habe ich so direkt die Präsenz eines Charakters gespürt wie bei diesen Protagonisten. Die Themenvielfalt ist dabei fast zu viel des Guten. Identitätssuche, Traditionen, der Umgang mit Kindern und deren Erziehung, ungelebte Sexualität und Rassismus finden sich genauso wie fehlende Liebe und Aufmerksamkeit innerhalb der Familie.

Jedem Familienmitglied wird ein Kapitel gewidmet, angefangen mit dem Ableben des Familienoberhauptes über die Kinder zur Mutter. Dabei spielt die Autorin gekonnt mit der Sprache und passt die Wortmelodie den Protagonisten an. Alter, Erfahrung und Schicksale sind deutlich zu erkennen und sprechen für sich. Mir ist es anfänglich schwergefallen, eine Handlung zu finden. Es fehlte die Tiefe, die sich aber je weiter man liest, immer mehr öffnet und mich in den Bann gezogen hat.

"Er stand schüchtern in der Küche, die Hände in den Hosentaschen, und sagte, Baba, du lenkst mich vom Spielen ab, doch
sein Vater wusste genau, worum es ging, und warf Ümit diesen Blick zu, von dem Ümit sich jetzt wünscht, es hätte ihn nie gegeben."

Dies ist der erst Roman, der mir aus einer anderen Perspektive das Leben zwischen zwei Kulturen aufgezeigt hat. Der Konflikt zwischen migrierten Eltern und deren Kindern, die in der zweiten Welt aufwachsen und das Verständnis für die elterlichen Wurzeln nur schwer nachvollziehen können wird spürbar herausgearbeitet.

Über das Ende mag man streiten, wirkt es doch ein wenig überzogen. Das Thema in diesem Roman ist aber so wichtig und aktuell, dass man darüber hinwegsehen kann.

Mir hat dieses Familienporträt sehr gefallen und zu vielen Denkanstössen angeregt. Eine Leseempfehlung für alle, die bereit sind, über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen.