Leerstellen im Familiengefüge

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Was wissen einzelne Familienmitglieder eigentlich voneinander? Sprechen sie untereinander über ihre Wünsche, Sorgen und Ängste? Was bedeutet es, wenn der eigene Lebensentwurf nicht kompatibel mit den moralischen Ansprüchen der Eltern oder auch anderen Familienmitgliedern erscheint? Bedeutet darüber zu schweigen ein Stück Freiheit oder Last? Wie wirkt sich fehlende Akzeptanz für das, was man ist, auf die Persönlichkeit und das Gefüge innerhalb der Familie aus? Welche Folgen haben erlittene Traumata noch für nachfolgende Generationen? Was bedeutet es in einem fremden kulturellen Kontext zu leben und dabei unterschiedlichen Spielarten von Alltagsrassismus ausgesetzt zu sein? All diese Fragen beschäftigen Fatma Aydemir in ihrem äußerst intensiv geschriebenen Roman „Dschinns“.

30 Jahre hat Hüseyin in Deutschland geschuftet, jede Möglichkeit für Überstunden ergriffen, Geld gespart, um endlich seinen Traum zu erfüllen: den Kauf einer Wohnung in Istanbul, in der er gemeinsam mit seiner Familie den Ruhestand in der alten türkischen Heimat genießen kann. Doch es kommt anders als geplant: Hüseyin erleidet einen Herzinfarkt, stirbt in der neuen Wohnung noch bevor er dort richtig einziehen konnte. Geschockt vom plötzlichen Tod machen sich seine Angehörigen auf den Weg nach Istanbul.

Aydemir widmet Hüseyin sowie seinen Kindern Ümit, Sevda, Perihan, Hakan und seiner Ehefrau Emine jeweils ein Kapitel. Schnell zeigt sich, dass die Kinder, die mit Ausnahme von Ümit bereits erwachsen sind, eine äußerst distanzierte Beziehung zum Vater und eine komplizierte Beziehung zur Mutter haben bzw. hatten. Alle versuch(t)en auf ihre Weise den Zwängen der Rollenerwartungen zu entkommen und einen eigenen Weg zu finden. Nicht nur die Kinder, sondern auch Hüseyin und Emine haben Schmerzhaftes erlebt und nie verarbeitet. Es herrscht eine geradezu bedrückende Sprachlosigkeit innerhalb der Familie, die letztendlich Verständnis, Unterstützung und Nähe verhindert.

Einige Leser:innen kritisieren, dass Dschinns zu viele gesellschaftliche und identitätsrelevanten Themen aufgreife, die Figuren zu klischeehaft gezeichnet, das Ende zu dramatisch sei. Es stimmt, dass Aydemir viele Themen und Probleme anspricht, die mit Migration, aber auch unabhängig davon mit dem besonderen Gefüge von Familie im Allgemeinen zu tun hat. Darüber hinaus geht es ihr um persönliche Entwicklung, Gender, Ausgrenzung, Rassismus, unterschiedliche Werte, Identitätsfindung und vieles mehr. Durch die verschiedenen Erzählperspektiven wird etliches nur am Rand gestreift. Mich hat das an keinem Punkt gestört, da die Autorin mit viel Feingefühl und einer unglaublichen Intensität die Sicht der einzelnen Familienmitglieder sowie Abschnitte aus ihrem Leben darzustellen vermag. Aydemirs Figuren sind für mich keine wandelnden Klischees, was für mich gleichbedeutend mit stereotyp, schablonenhaft, eindimensional und blass wäre. Die Autorin spielt lediglich mit Klischees - ihre Protagonist:innen sind durchgängig komplexe, authentische Persönlichkeiten, die auch gerade durch ihre Widersprüchlichkeit und ihren eigenen Erzählton lebendig werden. Ich kann mir Hüseyin, Emine, Ümit, Perihan, Hakan und Sevda genau so auch im realen Leben vorstellen. Dschinns hat mich thematisch und in seiner emotionalen Intensität gefesselt und absolut überzeugt.