Messerscharfe Analyse

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alasca Avatar

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Vater Hüseyin hat sich dreißig Jahre lang als Stahlarbeiter für deutsche Arbeitgeber die Gesundheit ruiniert, um seine Familie durchzubekommen. Nun, mit 60 Jahren, will er endlich „Deutschland, dieses kalte und herzlose Land“ hinter sich lassen: „Sie nennen es Frührente, aber nichts davon fühlt sich früh an.“ Er hat eine Wohnung in Istanbul gekauft; kaum ist sie eingerichtet, erliegt er einem Herzinfarkt. Nun sind seine Frau Emine und alle Kinder gefordert, nach Istanbul zur Beerdigung zu kommen. Nicht alle schaffen es rechtzeitig.

Aber sie erinnern sich. In Rückblenden aus der Sicht der Kinder rollt Aydemir die Geschichte der Familie Yılmaz auf. Emine hat in Deutschland eine Angstneurose entwickelt. Sie verlässt niemals ohne Not die Wohnung und lernt nie Deutsch. Dass sie als Kurdin durchaus eine Fremdsprache beherrscht, nämlich Türkisch, ist selbst ihren Kindern nicht klar. Die erfahren erst als Teenager, dass sie ursprünglich Kurden sind. Typisch für die Familie Yılmaz: man spricht nicht über heikle Dinge. Konflikte bleiben ungelöst, Erwartungen hängen unausgesprochen im Raum. Gerade deshalb entwickelt beides große Macht.

Die Struktur des Romans folgt kapitelweise den Familienmitgliedern: Er beginnt mit dem Vater und endet mit der Mutter – diese beiden Kapitel umarmen quasi die Kapitel der vier Kinder. Ümit, der schüchterne jüngste Sohn, soll mit einer Psychotherapie von seiner Homosexualität „geheilt“ werden. Sevda, die Älteste, kommt als 15jährige Analphabetin nach Deutschland und kämpft sich mit unbändiger Kraft nach oben. Peri ist die Radikalste der Familie; sie studiert Literatur und lässt keine Droge und kein Liebesabenteuer aus. Hakan hat einen halblegalen Autohandel aufgezogen und lebt vom Geld seiner Freundin und in ständiger Angst vor der örtlichen Mafia und der Steuerbehörde. In dieser Familie müssen gleich drei Kulturen und drei Leitbilder miteinander vereinbart werden: die kurdische, die türkische und die deutsche. Das geht nicht ohne Kollateralschaden. Alle Figuren strotzen nur so vor Lebendigkeit, obwohl sie durchaus Klischees bedienen, vor allem Emine und Hakan. Dafür gibt es Gründe. Und Erklärungen, die mich verblüfft haben: hätte ich nicht selbst drauf kommen können?

Aydemir wirft Fragen auf: Was macht Hüseyins eiserne Arbeitsmoral mit seinen Söhnen? Wieviel Unterstützung können die Töchter von Emine erwarten? Wie wirken sich die von Neuen Rechten angezündeten türkischen Wohnungen auf das Lebensgefühl der Familie aus? In ihrem neuem Roman wird der gesamte aktuelle Diskurs durchdekliniert; Heimat, Feminismus, Gender, Diversität, Rassismus, Patriarchat, Mental Load, Neue Rechte. Aydemir verarbeitet das hochemotional und ganz ohne erhobenen Zeigefinger; ihre knackig-klare Sprache webt feine Fäden, die am Ende ein farbiges Muster ergeben. Spannend ist es auch – der Spannungsbogen hängt nicht einmal durch und überrascht am Ende mit einer teils verstörenden, teil ermutigenden Auflösung.

Fazit: Ich konnte den Roman kaum aus der Hand legen, so sehr hat mich das Leben und Erleben der Familie Yılmaz mit ihren politischen und gesellschaftlichen Bezügen gefesselt. Ein messerscharf kluges Buch. Empfehlung!