Porträt einer Familie in der Fremde

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miro76 Avatar

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Hüseyin ist in den 70er Jahren nach Deutschland gegangen, zum Geld verdienen. Im Hinterland der Türkei ist sein Auskommen nicht mehr gesichert. Seine Familie holt er nach acht Jahren nach.

Sein Leben war geprägt durch harte Arbeit und Sparen, denn einen Traum wollte er sich erfüllen: eine großzügige Wohnung für die Familie in Istanbul, wo er seinen Lebensabend verbringen will.

Als die Zeit gekommen ist, reist er allein in die Stadt, um die Wohnung einzurichten. Alles soll schön sein, wenn er seiner Frau Emine seinen Traum zeigen kann. Doch dazu kommt es nicht. Er stirbt an einem Herzinfarkt nach der ersten Nacht im neuen Domizil.

Der Schock sitzt tief bei den Angehörigen, die sich schnellstmöglich auf den Weg in die Türkei machen. Die beiden jüngsten Kinder und Emine fliegen sofort. Die älteste Tochter verpasst ihren Flug und der älteste Sohn reist mit dem Auto an.

Und dann kommen die Kinder zu Wort. Alle mit ihren eigenen Problemen, ihren eigenen Dschinns.

Fatma Aydemir hat in die Geschichten der Kinder extrem viele Themen untergebracht. Gender und Identität sind die Hauptthemen, aber es geht auch um Rassismus, Traditionen, Selbstmord und Kindererziehung. Was alles durchzieht ist das Schweigen in der Familie, das alles zusammenhält, aber auch alles trennt. Die Sprachlosigkeit geht so weit, dass die Kinder nicht einmal wissen, dass sie eigentlich Kurden sind und keine Türken.

Spannend ist außerdem der Aufbau des Romans. Hüseyin wird direkt angesprochen bei seinem endgültigen Drama, welches so unglaublich traurig ist. Es spricht viel Liebe aus ihm, die sich in der übrigen Familie kaum wiederfindet. Beginnend mit dem jüngsten Kind baut sich dann ein Bild der Familie auf, das immer mehr Tiefe gewinnt und immer mehr Geheimnisse birgt. Vieles scheint in dieser Familie schief zu laufen. Die Ursache dafür erfahren wir erst ganz zum Schluss, wenn die Mutter zu Wort kommt.

Gut gefallen hat mir außerdem, wie sich die Sprache der jeweiligen Person anpasst. Ümit ist noch sehr jung, seine Geschichte ist in einfacher, moderner Sprache gehalten. Sevda hatte es am schwersten und wurde vielleicht am wenigsten geliebt. Ihre Geschichte ist etwas distanzierter geschrieben. Peri hat durch Bildung alle kulturellen Barrieren überwunden. Ihre Teil ist reflektierter und Haken ist der junge Wilde, sein Part hetzt nur so dahin.

Fatma Aydemir hat hier viele Klischees eingebaut, um sie gleichzeitig wider aufzubrechen. Niemand ist nur gut und nur böse, niemand hat es einfach nur leicht und niemand ist nur Opfer der Umstände.

Das Ende ist vielleicht etwas überspitzt, aber nach ein bisschen drüber nachdenken hat mich das dann doch nicht gestört. Irgendwie ist es passend, wird hier aber natürlich nicht verraten. Wer es wissen möchte, muss das Buch schon lesen. Ich verspreche, es bietet tiefe Einblicke in die türkische Kultur, in die Sorgen und Nöte migrierter Menschen und der 2. Generation.

Es wird auf jeden Fall den Horizont der Leser*innen erweitern!