Verschiedene Perspektiven auf eine bewegende Familiengeschichte

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waschbaerprinzessin Avatar

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Dies ist ein Roman über eine Familie, in der jedes einzelne Familienmitglied einen großen Rucksack an Problemen und schmerzhaften Erinnerungen mit sich herumträgt, ohne mit den anderen darüber sprechen zu können. Der Tod von Vater Hüseyin in der neu gekauften Wohnung in Istanbul, für die er jahrzehntelang in Deutschland geschuftet hat, bringt die Familie in der Türkei zusammen und reißt alte Wunden wieder auf.

Fatma Aydemir hat "Dschinns" in sechs nach den einzelnen Familienmitgliedern benannte Abschnitte geteilt. Die Kapitel über die Eltern Hüseyin und Emine rahmen die Abschnitte über ihre vier Kinder: Nesthäkchen Ümit, der als einziger noch bei den Eltern lebt und versucht, sich über seine Gefühle klarzuwerden; die älteste Tochter Sevda, die erst im Teenageralter von den Eltern nach Deutschland nachgeholt wurde; Perihan, die seit Kurzem damit begonnen hat, sich mit den kurdischen Wurzeln ihrer Familie auseinanderzusetzen und Hakan, für den das Wichtigste ist, ein anderes Leben als sein Vater zu führen.

Man erfährt einerseits, wie sich die einzelnen Familienmitglieder auf den Weg nach Istanbul begeben und dort zusammenkommen, andererseits blicken die Protagonist*innen auf ihr bisheriges Leben zurück und reflektieren ihre privaten Probleme. Diese Erinnerungsabschnitte empfand ich meist als interessanter als die Ereignisse in der Gegenwart. Insbesondere, dass alle Familienmitglieder aus ihrer Perspektive auf verschiedene besonders prägende Momente in der Familiengeschichte zurückblicken und man sie so aus verschiedenen Blickwinkeln miterlebt, wodurch sich nach und nach ein Puzzle zusammensetzt, hat mir unglaublich gut gefallen. Aydemir hat für alle vier Geschwister einen jeweils eigenen Sprachstil geschaffen, der dazu beiträgt, dass alle vier beim Lesen lebendig werden und man sich in sie hineinversetzen kann. Es ist erschütternd, was sie erleben, zugleich aber auch beeindruckend, was sich die Geschwister teilweise erkämpft und erarbeitet haben. Sehr gelungen ist auch die Erzählperspektive der Elternkapitel. Sie sind in der zweiten Person an Hüseyin und Emine gerichtet geschrieben. Diese Erzählweise macht die beiden Kapitel besonders packend und zieht einen mitten in die Geschichte und in die Gedanken- und Gefühlswelt beiden Elternteile hinein, mit denen man mitleidet.

Fatma Aydemirs Roman "Dschinns" gibt tiefe und ergreifende Einblicke in das Leben einer türkischen Arbeiterfamilie in Deutschland von den Siebzigern bis in die Nullerjahre und hat mich mit seiner multiperspektivischen Erzählweise sehr begeistert, auch wenn ich die Abschnitte über die Gegenwart nicht ganz so gelungen fand wie die Rückblicke in die Vergangenheit der Familie. Auf jeden Fall eine Empfehlung für alle, die gerne in Schicksale und Lebenswelten eintauchen, die sich deutlich von der eigenen Erfahrung unterscheiden.