Zerrissenheit

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Ende der 90er: Nach vielen Jahren harter Fabrikarbeit hat Hüseyin endlich die Rente erreicht und erfüllt sich einen Traum, der die vielen Entbehrungen in Deutschland entschädigen soll: eine Wohnung in Istanbul - ein Platz in der Heimat für die ganze Familie. Doch er hat keine Zeit seine liebevoll eingerichtete Wohnung zu genießen und stirbt plötzlich und alleine. Der Tod des Vaters zwingt die zerstreuten Familienmitglieder zur Beerdigung nach Istanbul: der jüngste Sohn Ümit, der noch zu Hause lebt und gerade in einer schweren Phase deiner Persönlichkeitsfindung ist, ist überfordert mit der Situation. Die älteste Tochter Sevda, die schon lange kein präsenter Teil der Familie ist, macht sich mit ihren beiden Kindern auf die Reise. Die jüngere Tochter Perihan kommt aus ihrer Unistadt Frankfurt nach Istanbul. Der älteste Sohn Hakan, der nun unfreiwillig Familienoberhaupt ist, bricht mit vielen Gedanken und Sorgen auf und die Mutter Emine versucht irgendwie, die Familie zusammenzutrommeln.

Fatma Aydemir erzählt in „Dschinns“ die Geschichte einer Einwandererfamilie, die eigentlich nirgendwo vollkommen akzeptiert wurde und deren Zerrissenheit sich auch in den familiären Banden widerspiegelt. Die Autorin lässt nacheinander alle Familienmitglieder mit ihren eigenen Sorgen, Charaktereigenschaften und Blick auf die Familie zu Wort kommen. Man merkt in jedem Abschnitt sehr eindeutig die Persönlichkeit des jeweiligen Protagonisten, denn Fatma Aydemir passt ihren Erzählstil sehr gut an. Die ersten beiden Kapitel haben mich sehr beeindruckt und ich war völlig begeistert von der Emotionalität und dem eindrücklichen Einblick in die Seele der Figuren. Leider hat sich meine Begeisterung im weiteren Verlauf leider etwas abgeschwächt. Im Roman werden viele, viele Identitätskonflikte und gesellschaftliche Probleme (nicht nur in Deutschland) angesprochen. Jedes Thema für sich allein betrachtet ist unglaublich wichtig. Leider überfrachten sie an einem gewissen Punkt den Roman etwas.
Ich hätte mir tatsächlich auch mehr Wechsel zwischen den Protagonisten und eine stärkere Interaktion gewünscht. Leider ist der Roman dann doch irgendwie linear erzählt und die Probleme werden angesprochen, aber zum großen Teil nicht weiter bearbeitet.

Wer Angst vor zu viel Mystik hat, der sollte sich vom Titel nicht abschrecken lassen. Die der islamischen Mystik entstammenden Dschinns spielen zwar eine kleine Rolle, aber im Fokus stehen dann doch ganz realweltliche Probleme und Herausforderungen.

Was mich zunächst überrascht hat war, dass der Roman Ende der 90er Jahre spielt. Tatsächlich hat mir das aber eigentlich sehr gut gefallen.
Interessant war auch, dass offensichtliche reale Ereignisse und Orte mit Fiktion gemischt werden. Das hat bei mir an mancher Stelle für Irritationen gesorgt, zeigt aber vielleicht, dass es einige Fixpunkte gibt, die für viele Familien mit Migrationshintergrund prägend sind.

Fatma Aydemirs „Dschinns“ startet hervorragend, verliert aber im weiteren Verlauf dadurch, dass die Protagonisten nur ein Mal zu Wort kommen und zu viele Problemfelder angerissen werden, die weitgehend unbearbeitet bleiben. Es scheint einfach auch schon ganz schön viel für eine Familie, sodass die Familienmitglieder an Klischees erinnern.
Nichtsdestotrotz ist der Roman ein interessanter Einblick und Beitrag zur gesellschaftlichen Debatte.