Spannend, brutal und mit unerwarteten Plot-Twists

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sleepwalker1303 Avatar

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Bei neuen Büchern von Karin Slaughter bin ich immer der Erste, der zugreift, so auch bei ihrem neuesten Werk „Dunkle Sühne“. Als großer Fan der „Will-Trent“-Reihe bin ich bei neuen Wegen wie auch bei Stand-Alones sehr skeptisch, aber bei diesem Buch war das völlig unbegründet. „Dunkle Sühne“ ist der Beginn einer neuen Serie, die in North Falls spielen wird und der erste Teil hat mich wirklich mitgerissen. Was für ein Auftakt!
Aber von vorn.
Am 4. Juli wird in den USA nicht nur der Unabhängigkeitstag gefeiert, auch Madison Dalrymple feiert mit Vater, Stiefmutter und Halbbruder ihren 15. Geburtstag. Allerdings ist ihr nicht nach Familienidylle im Park mit städtischem Feuerwerk zumute, sie plant mit ihrer Freundin Cheyenne in zwei Monaten nach Atlanta abzuhauen, „in einer Suite im Ritz-Carlton wohnen und VIP-Tickets fürs Music Midtown-Festival bekommen, ein paar ältere Typen treffen, die mit ihnen in die angesagten Clubs gingen, und wahrscheinlich als Football-Spielerfrauen enden und in prächtigen Villen wohnen“. So der Plan, den die beiden hochpubertären und rebellischen Teenager bei einem Joint an diesem Abend besprechen wollen. Ihr Plan geht nicht auf, nach dem Feuerwerk werden von den beiden nur ihre Fahrräder gefunden (eines ist kaputt), außerdem eine große Menge Blut. Von Madison und Cheyenne fehlt aber jede Spur. Emmy Clifton ist nicht nur die Tochter des örtlichen Sheriffs Gerald Clifton und dessen Deputy, sondern auch die beste Freundin von Madisons Mutter. Sie suchen verzweifelt nach den beiden Vermissten, aber da bei Kindesentführungen die Zeitfenster sehr klein sind, in denen erwartet wird, das Opfer noch lebend zu finden, läuft ihnen die Zeit davon.
Zwölf Jahre nach der Verhaftung des Hauptverdächtigen wird dieser aus der Haft entlassen. Kurz darauf wird in North Falls wieder ein Teenager vermisst. Schnell ist klar: die vierzehnjährige Paisley Walker wurde entführt. Die Verdächtigen und die Ermittler sind dieselben. Und auch dieses Mal ist es ein Wettlauf gegen die Zeit.
Für mich war „Dunkle Sühne“ eine fast komplett runde Sache. Kritikpunkte sind die für mich manchmal nicht stimmige Wortwahl in der Übersetzung und der Titel, der irgendwie nicht passt. Sonst habe ich kaum Kritikpunkte: Setting, Charaktere, Schreibstil, Plot – da stimmt einfach alles. Die Kleinstadt-Atmosphäre wird unter anderem dadurch geprägt, dass alle miteinander verwandt zu sein scheinen, auch wenn sie untereinander zum Teil mehr oder weniger verfeindet sind. Die Geschichte an sich ist ein zwei großen Abschnitten erzählt, vor 12 Jahren und heute. Sie braucht ein bisschen, um in Fahrt zu kommen, aber nach ein paar Dutzend Seiten nimmt die Geschwindigkeit immer mehr zu. Durch die zahlreichen auch völlig unerwarteten Wendungen werden Tempo und Spannung hoch.
Was mir wirklich gut gefallen hat ist, dass die Leserschaft immer wieder auf den aktuellen Stand der Ermittlungen gebracht wird. „Was wissen wir?“ ist die Frage, die sich die Ermittler immer wieder stellen und dann folgt eine Zusammenfassung, ebenso auf die Frage „Was glauben wir zu wissen?“ So etwas war mir vorher in keinem Krimi/Thriller begegnet.
Die Charaktere sind dreidimensional und bildhaft beschrieben, jedem hat Karin Slaughter ganz eigene Merkmale mitgegeben, bei der Vielzahl der auftretenden Personen eine echte Leistung. Emmy kämpft an allen möglichen Fronten. Ihr Mann Jonah macht ihr zu schaffen, der Fall natürlich auch und sie steht immer im Schatten ihres Vaters und Vorgesetzten Gerald. Dazu wird ihre Mutter Myrna zunehmend dement. Und dann taucht auch noch Jude Archer auf, eine Kriminalpsychologin des FBI, die eine ganz eigene Verbindung zu North Falls hat.
Inhaltlich ist es ein „typischer Slaughter“, blutig und brutal, dazu gibt es Einblicke in die Abgründe menschlichen Verhaltens. Thematisch handelt der Thriller etwas ab, das nie die Aktualität verlieren wird: Mord, M***brauch, Machtm***brauch und die Naivität von Teenagern, cleverer zu sein, als alle anderen. An manchen Stellen hätte die Autorin sich ein bisschen kürzer fassen können, aber ihre Aus- und Abschweifungen und Längen bin ich gewohnt. Ebenfalls gewohnt bin ich ihre völlig überraschenden Wendungen, aber dieses Mal hat sie mich an ein paar Stellen eiskalt erwischt, auf diese Twists wäre ich im Leben nicht gekommen. Im Original heißt das Buch „We are all guilty here“ („Wir sind hier alle schuldig“) und der Titel passt hervorragend, denn in diesem Ort hat jeder irgendwelche wie auch immer geartete Geheimnisse.
Für mich war das Buch eine tolle Lektüre, ich habe mitgefiebert und mit Begeisterung mitgerätselt. Von mir gibt es fünf Sterne.