Ultra spannend, aber auch lang!

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kascha Avatar

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Dieses Buch beginnt gleich mit einem verstörenden Fall: Am 4. Juli, während die gesamte Stadt feiert, verschwinden zwei 15-jährige Mädchen spurlos. Für Deputy Emmy Clifton ist der Schock besonders tief, denn eines der Mädchen ist die Tochter ihrer besten Freundin – und sie selbst hat ihre Sorgen kurz vor der Tat nicht ernst genommen. Was wie ein tragischer Vorfall beginnt, entwickelt sich zu einem düsteren Netz aus Schuld, Geheimnissen und jahrzehntealten Verwicklungen.
Slaughter verwebt in “Dunkle Sühne” - fast schon meisterhaft - zwei Zeitebenen miteinander: Die erste Hälfte des Romans spielt unmittelbar nach dem Verschwinden der Mädchen, die zweite zwölf Jahre später – als einer der damaligen Tatverdächtigen aus der Haft entlassen wird und erneut ein junges Mädchen verschwindet. Diese doppelte Struktur erlaubt es der Autorin, die psychologischen und sozialen Folgen des damaligen Verbrechens vielschichtig zu erzählen und ins “Jetzt” hinein zu transportieren. Es geht nicht nur um die Frage, was damals wirklich geschah, sondern auch darum, was Schuld und Trauma mit einer Gemeinschaft – und mit einzelnen Menschen – über Jahre hinweg machen.
Emmy Clifton ist dabei eine vielschichtige Figur: unkonventionell, widersprüchlich, wütend, verletzlich. Sie trägt den moralischen Konflikt, der sich durch die Geschichte zieht, in sich – einerseits will sie Gerechtigkeit, andererseits ist sie tief verstrickt in das Beziehungsgeflecht der Stadt. Genau wie bei ihren Figuren gelingt es Slaughter - wie gewohnt - ein vielschichtiges Spannungsfeld zu erzeugen: Sie thematisiert Missbrauch, Sucht, psychische Erkrankungen, die Herausforderungen moderner Ermittlungsarbeit und die strukturellen Ungleichheiten, die gerade in Kleinstädten deutlich spürbar sind. Dabei bleibt sie nie oberflächlich. Die psychologische Dichte, mit der sie ihre Figuren zeichnet, ist hier wirklich herausragend spürbar – niemand ist einfach nur gut oder böse, sondern alle sind auf ihre Weise schuldig, verletzt oder gefangen in eigenen oder gesellschaftlichen Mustern.
Atmosphärisch ist der Roman ebenfalls wirklich sehr dicht: Die Enge von North Falls ist förmlich spürbar – ein Ort, an dem jeder jeden kennt, aber kaum jemand wirklich mit offenen Karten spielt. Karin Slaughter erzeugt ein dichtes Stimmungsbild, in dem sich das Gefühl der Bedrohung langsam aufbaut. Nach ein paar Seiten findet man einfach jeden Bürger dieser Kleinstadt verdächtig. Ihre Sprache ist direkt, schnörkellos und trotzdem sehr kraftvoll. Besonders in der zweiten Hälfte nimmt die Geschichte deutlich an Tempo auf: Die Spannung zieht merklich an, die Wendungen häufen sich und das Ende ist dramatisch, aber löst die Geschichte dennoch glaubwürdig auf.
Einige Leser:innen könnten den Einstieg als etwas langatmig empfinden, zumal Slaughter sich viel Zeit für Figurenzeichnung und Hintergrund nimmt. Doch genau diese Tiefer bedarf es, um sich in die Geschichte einfühlen zu können. Hier geht es definitiv nicht primär um die Frage „Wer war's?“, sondern um das, was Schuld mit einer Gemeinschaft macht – und ob und wie man ihr je entkommen kann.
"Dunkle Sühne" ist für mich ein Roman, der sich weniger durch rasante Action als durch psychologische Präzision und gesellschaftliche Relevanz auszeichnet. Es ist eine generationenübergreifende Erzählung über Wahrheit, Verantwortung und die Wunden, die niemals ganz heilen. Ein starker Roman, der Lust auf mehr macht – tiefgründig, teilweise sehr unbequem und fesselnd.