Wenn Not nicht nur Härte hervorbringt, sondern besondere Begabungen

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Ellies Eltern hatte niemand darauf vorbereitet, dass sie durch die Wirtschaftskrise in den 20ern/30ern des vorigen Jahrhunderts alles verlieren und auf einem Berg in Maine mit eigenen Händen eine Blockhütte bauen würden. Wenn niemand Arbeit hat, kann auch niemand einen begabten Schneider oder eine Musiklehrerin bezahlen. Mit drei Kindern hat die Familie sich oberflächlich erstaunlich gut mit den neuen Lebensumständen arrangiert. Der Blockhausbau und die tägliche Arbeit sind für die Kinder die Schule des Lebens. Die 12-jährige Ellie liebt den Berg und die Natur; sie nimmt begierig auf, was ihr Vater ihr über das Ernten, Jagen und Fischen beibringt. Er lebt nach dem Motto, dass ein Kind nicht früh genug lernen kann, was es sowieso einmal können muss und dass man durch eigenes Tun erfolgreicher lernt als allein durch Zuhören oder Zusehen. Die Sensibilität seines mittleren Kindes für die Natur ist für den Vater ganz und gar nicht selbstverständlich. Ellie dagegen nimmt lange an, dass doch jedes Mädchen Tiere und Pflanzen sprechen hören und ein Händchen für Heilpflanzen haben würde.

Ellies Mutter und Schwester litten stärker unter dem Verlust ihres alten Lebens als der Vater und seine naturverbundene Mittlere und der jüngste Samuel fühlt sich viel zu wenig beachtet. Das Überleben gelingt den Neusiedlern nur durch die unerbittliche Härte, mit der sie ihre Trauer um das Verlorene verdrängen. Als Ellies Vater beim Fällen eines Baums verunglückt und nicht wieder aus dem Koma erwacht, eskalieren die Sorgen und Probleme.

Mit der Pflege des schwer verletzten Vater beschäftigt, nimmt Ellie zunächst wahr, dass im Wald eine scheue Person leben muss, der ihr sehr persönliche Geschenke schnitzt, aber zu schüchtern ist, um sich zu zeigen. Als sie weit oben am Berg auf die alte Cate trifft, die fiebernd mit einer infizierten Wunde in ihrer Hütte liegt, muss Ellie handeln. Noch ehe sie Cate zur Seite stehen kann, wird ihr klar, dass auf der anderen Seite des Bergs schon immer Menschen gelebt haben, die vor den Neusiedlern ebenso viel Angst haben wie umgekehrt Ellies Eltern und Nachbarn vor „den Anderen“. Unten am Berg tut sich Ellies Mutter wiederum schwer damit, eine Zwölfjährige entscheiden zu lassen, wie sie den Vater aus dem Koma wecken will – denn Ellie entwickelt Ideen, die Mutter und Schwester im Traum nicht eingefallen wären.

Wie schon in „Eine Insel zwischen Himmel und Meer“ legt Lauren Wolk auf den ersten Blick einen Jugendroman vor historischer Kulisse vor, der auf einer weiteren Ebene voller Lebensweisheiten auch Erwachsene ansprechen wird. Die Vorgeschichte der Familie wird zwar recht einfach für eine Zielgruppe ab 10 Jahre erklärt. Während Ellie ihre Familie und Wolks Leser mit ihrer Begabung für die Versorgung Schwerverletzter verblüffen kann, entfaltet sich jedoch eine weitere Ebene, auf der es um das Zusammenstehen in Notzeiten, Schuld und die komplizierte Geschwisterbeziehung der drei Kinder geht. Wer „Eine Insel zwischen Himmel und Meer“ mochte oder die Bände über die couragierte Calpurnia, sollte hier zugreifen.