Ich weiß ja, wo ich einsteigen muss

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adelheid von buch Avatar

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Das Cover dieses Buches ist mir sofort ins Auge gefallen. Ich finde es genial in seiner Schlichtheit. Das Ölpapier mit dem verrutschten Stempel, der gleichzeitig ein Exlibris ist, war vor 60 bis 70 Jahren vielleicht ein normales "Kleid" für viele Bücher. Der Autor erzählt von seiner Mutter, die in dieser Zeit jung war, jetzt jedoch 95 Jahre alt ist und dement. Es ist spannend, wie Mutter und Sohn sehr eng miteinander interagieren, dabei aber in sehr weit voneinander entfernten Welten unterwegs sind. Aus einem inneren Zwang heraus, "muss ich jetzt ihr Leben nachstricken. ...und dann bin ich es los." Und so ist der Leser in den letzten drei Tagen des Lebens der Mutter direkt dabei, wie der Sohn einerseits die letzten Momente mit ihr erlebt, andererseits die Lebensstationen der Mutter erinnert. Geboren im Jahr 1923 war ihr ganzes Leben vom Trauma der Weltwirtschaftskrise geprägt, das sie nie überwinden konnte und das auch der Sohn schon mit der Muttermilch verabreicht bekommen hat. Noch viele weitere schlimme Zeiten waren zu überstehen, die die Mutter hart gemacht haben. "Sie konnte nicht mit den Leuten." Und die Leute konnten dann wohl auch nicht mit ihr.
Einen besonderen Charme bekommt das Buch durch die sehr authentische Wiederholung von Gedanken, so wie es besonders bei sehr alten Menschen stattfindet. Auch der rhetorische Trias, der eine Spezialität der Mutter ist (putzen, waschen, kochen), durchdringt den gesamten Text. Bei aller Traurigkeit ist das Buch von einem großartigen herzerwärmenden Humor durchzogen. Liebevoller Respekt klingt in jeder Szene an.
Ich bin sehr froh, dass dieses Buch zu mir gefunden hat. Sehr gern gebe ich eine klare Leseempfehlung.