"... meine Mutter hat es mir so oft erzählt, ich muss es abstreifen."

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Wolf Haas, der reale, vielleicht auch ein partiell fiktiver, schreibt über seine Mutter, die im Pflegeheim im Sterben liegt. Philosophische, auch skurille Gedanken gehen ihm durch den Kopf, aber auch Wut.
Wut, die auf mich zunächst etwas irritierend wirkte. Ist es eine Strategie, Abstand vom Kommenden zu nehmen oder ist das Verhältnis zur Mutter tatsächlich lebenslang ein schwieriges gewesen?

Marianne Haas, ein schwieriger Mensch. Für den Sohn, für die Dorfgemeinschaft. Offenbar ein Leben lang an den Verhältnissen leidend und gekränkt: "... etwas Angetanes, wovon sie sich mehrere Jahre ernährte".

Sie konnte nicht mit den Leuten, sagt der Sohn. Schon vor ihrer Geburt geprägt vom Verlust des Bauernhofes ihres Großvaters ("Der Fehler lag ja vor ihrer Geburt"), und dessen Verdingen als Knecht, in Folge lebenslang vom Thema Eigentum besessen, ist das Familiengrab, diese zwei Quadratmeter in bester Lage auf dem schönen Dorffriedhof der erste und letzte Grundbesitz ihres Lebens.

Kein leichtes Leben hat sie gehabt bzw. es sich nicht gemacht. Die geerbte Last des Verlusts der eigenen Scholle, der Krieg zwischen dem ersten und zweiten Tag ihrer Berufsausbildung, der tagelange Marsch in die Heimat nach Kriegsende, die schwermütige Hochzeit, das Hausen zu viert in anderthalb Zimmern, nach Jahren dann endlich eine Mietwohnung, doch für die Anzahlung zur Eigentumswohnung reicht immer das gerade angesparte Geld nicht mehr aus.

Einiges fand ich nicht ganz nachvollziehbar, zB macht Haas aus dem schönen Lied "Besame Mucho" (wunderbar gesungen von Cesária Évora) ein immer wiederkehrendes "Bes auf mi Mutti", oder das ebenfalls wiederholt zitierte "Etwas niedergeschlagen stehen zwei Zuschauer auf der Walstatt, der Schreiber und der Leser." Das habe ich nicht mehr recherchiert, aber ich lasse mich gern zur Poetik-Vorlesung einladen;)

Das Buch hat mich berührt. Zum einen hat es sehr viel mit unserem Menschsein zu tun, mit Erfahrungen, die so oder ähnlich jeder Mensch macht. Zum anderen wird am Lebenslauf von Marianne Haas bewusst, dass Geschichte nicht das ist, was in Büchern steht, sondern von Menschen gelebt werden musste, hier von der großen Inflation noch vor Geburt der Mutter bis zum Smartphone. Und letztendlich dieser schöne Humor von Wolf Haas und die Erkenntnis: wir können uns vieles nicht aussuchen, aber wir können entscheiden, wie wir damit umgehen.