Beunruhigend aktuell

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William Melvin Kelleys „Ein anderer Takt“ ist eine Wiederentdeckung eines schon vor fast 70 Jahren erschienen Buches. Inwiefern die Übersetzung des Originaltitels als gelungen bezeichnet werden darf, lasse ich mal offen. Das Buch war in Vergessenheit geraten – und ist dabei doch erschreckend aktuell und man kann nur spekulieren, ob ein Autor, der ein so relevantes Buch schrieb, vorwiegend deshalb „verschüttging“, weil er schwarz war oder weil Weiße kein Buch lesen wollten, das ein schwarzer Autor aus ihrer Perspektive schrieb.
Das Buch handelt von Tucker Caliban, einem schwarzen Farmer aus Sutton, einer Südstaatenkleinstadt. Tucker tötet sein Vieh, brennt seinen Hof nieder und verlässt mit seiner Familie den Bundesstaat. In kurzem Abstand folgen ihm alle anderen schwarzen Bewohner der Stadt. Zurück bleiben ratlose Weiße: Wieso verlässt Tucker die Stadt von einem Tag auf den anderen? Wer kümmert sich denn jetzt um die Felder? Und wie soll man mit der Situation überhaupt umgehen? Bei der Beschreibung der Auswirkungen des kollektiven Auszugs der Schwarzen aus der Sicht der Weißen lässt Kelley rassistische Traditionalisten auf liberale Stimmen treffen. Und es scheint nur eine Frage der Zeit, bis die von Hilflosigkeit, Wut und Verzweiflung geprägte Gemengelage eskaliert.
Die fiktive Geschichte wird quasi antichronologisch erzählt. Dabei ist Kelleys Tonlage zunächst klar und poetisch zugleich, wird jedoch auch durchzogen von Empathie und beißendem Humor. Wörter wie „Neger“ oder „Nigger“ verwendet er relativ häufig, denn in den 1960ern hatte zumindest ersteres noch nicht durchgängig die heute übliche negative Konnotation, da der Bedeutungswandel noch nicht vollzogen war. Der Protagonist Tucker ist ein Träumer bzw. Kämpfer, der glaubt, dass man seinen Überzeugungen entsprechend handeln müsse. Deshalb geht es hier auch nicht platt um Rassismus, sondern auch um den Kampf des einzelnen und der Gesellschaft für Gleichheit und Gerechtigkeit. Damit wirft das Buch ein Schlaglicht auf (historische) soziokulturelle Unterschiede zwischen Schwarz und Weiß in den USA. Gerade vor dem Hintergrund der aktuellen Situation in den Staaten weist das Buch eine geradezu beunruhigende Aktualität auf, denn es hält uns einen Spiegel vor und zeigt, wie wenig wir uns entwickeln bzw. dass wir uns vielfach sogar zurückentwickeln scheinen.
Das Buch ist literarisch wertvoll, wichtig, wirkt nach und sollte für weite Teile der Welt zur Pflichtlektüre gemacht werden. Einen Abzug gibt es dennoch, weil es erfordert, dass man sich konzentriert und letztlich wenig Hoffnung für die Zukunft macht.