Die Welt aus den Fugen

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"Es gibt keinen Grund zur Sorge. Wir haben sie nie gewollt, wir haben sie nie gebraucht, und wir werden sehr gut ohne sie zurechtkommen."


Eines Tages beschließt der schwarze Farmer Tucker Caliban, seine Felder mit Salz zu bestreuen, sein Vieh zu schlachten, sein Haus abzubrennen und mit seiner Familie den Staat zu verlassen. Innerhalb weniger Tage tun es ihm alle Schwarzen des Staates gleich, und die weißen Bewohner der Kleinstadt Sutton sehen sich mit einer Welt konfrontiert, die sie nicht verstehen.

William Melvin Kelley ist der "vergessene Gigant der amerikanischen Literatur", bekannt geworden mit seiner experimentellen Prosa, die aus weißer Perspektive schwarze Geschichten erzählt. Auch in "Ein anderer Takt" sind die Schwarzen zwar die Hauptakteure, jedoch kommen ausschließlich Weiße zu Wort, die sich das Geschehen zu erklären versuchen. Dazu zählen die ungebildeten, rohen Dörfler auf der Veranda, manche davon zutiefst rassistisch, andere darum bemüht, ihre Kinder eher liberal zu erziehen (was bedeutet, dass sie nicht das N-Wort benutzen dürfen). Dann gibt es die Familie Willson, die in unterschiedlichsten Konstellationen und Textsorten zu Wort kommt. Wir lesen Davids Tagebuch, bekommen von Dymphna und Camille aus dem Leben erzählt, beobachten Dewey aus der Perspektive des allwissenden Erzählers. Dieser permanente Wechsel der Sichtweisen, Erzählstimmen und Textformen lässt eine Dynamik entstehen, die nicht zu durchbrechen ist. Man will und muss immer weiterlesen.

Verschiedenste Lebenswege werden so beleuchtet, alles erscheint in einem größeren Zusammenhang, und man muss immer wieder innehalten, um zu reflektieren und gedanklich zu verknüpfen. Alle Figuren hatten etwas mit Tucker Caliban zu tun, alle wissen ein bisschen etwas über den Vorfall, und besonders durch die Willsons erkennt man, was Tucker zu seiner Tat gebracht hat.

Kelleys Gedankenexperiment zielt auf eine Welt ab, in der die Schwarzen von ganz alleine aktiv werden, aus dem Herzen der Gemeinschaft heraus, und die Gesellschaft, die sie so lange unterdrückt und selbst nach der Sklaverei noch versklavt hat, einfach hinter sich lassen . In diesem Roman reißen die Schwarzen das Ruder an sich - völlig ohne Gewalt, völlig ohne Raserei oder Rachegelüste. Die Weißen, insbesondere die dummen, rassistischen, sind in dieser Welt verloren, denn ihre Identität und ihre Stellung in der Gesellschaft beruhen einzig und allein auf diesem inoffiziellen "Gesellschaftsvertrag" , den die Vorfahren ihnen hinterlassen haben. Sie existieren im Grunde nur in Relation zu den Schwarzen. Als die Männer erkennen, dass sie nun mit sich und ihrer Lausigkeit allein sind, sozusagen keinen Bezugspunkt mehr haben in der Welt, bricht Aggressivität aus. Schuldige werden gesucht und gefunden, die Wut auf die eigene Ohnmacht durch Brutalität übertönt.

Und so zeigt sich im Verlauf von Kelleys Roman, wie falsch doch der oben zitierte Satz des Gouverneurs ist. Sie versuchen sich einzureden, sie seien froh, dass die Schwarzen endlich verschwunden sind - doch eigentlich lässt es die Menschen ratlos, verzweifelt und wütend zurück, ohne dass sie das verstehen oder akzeptieren können. Die Selbstermächtigung der Schwarzen ist bei Kelley etwas ganz Natürliches, sie brauchen keine charismatischen Führer, die für sie das Wort ergreifen, und sie brauchen keine Gewalt - sie brauchen einfach nur diese eine kleine Erkenntnis und ihr Bauchgefühl. Und so ist Kelleys Roman wohl der emanzipierteste, modernste und bewegendste Roman über die Bürgerrechtsbewegung, den ich je gelesen habe.