Im Westen nichts Neues...

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Was mich am meisten an dem Buch überrascht hat: Es ist 1962 erschienen. Die Wiederentdeckung des Werks hat sich aber gelohnt, denn man nimmt nur bedingt wahr, dass es in einer anderen Zeit spielt als heute. Zu ähnlich sind die Probleme, wenn sie auch an der Oberfläche anders scheinen als damals. Tatsächlich gewinnt man fast den Eindruck, dass durch die Bemühungen der letzten Jahre, eine möglichst inklusive Gesellschaft mit respektvollem Umgang miteinander zu erschaffen, nur wieder Öl ins Feuer des alten Konfliktes gegossen wurde: des Konfliktes zwischen "Weißen" und "Farbigen" - Kategorien, die eigentlich völlig sinnlos sind, da sie eine Homogenität suggerieren, die nicht existiert. Die Ähnlichkeiten sind auch darum so frappierend, weil der Autor als Setting nicht die Zeit gewählt hat, in der es noch Sklaverei in den USA gab, sondern eine Zeit, in der diese eigentlich schon abgeschafft war, in der sich aber viele Dinge kaum bis gar nicht geändert hatten. Gleichberechtigung musste noch erkämpft werden und wo sie auf dem Papier besteht, ist sie teilweise auch heute noch nicht in Köpfen und Herzen der Menschen angekommen.

Die Geschichte wird ausschließlich aus der Sicht der weißen Bewohner von Sutton erzählt, wobei diejenigen ausgewählt wurden, die der farbigen Bevölkerung gegenüber positiv eingestellt sind. Es kommen auch Tagebucheinträge und Briefe vor. Die Erzählweise ist so intim, so authentisch, dass man sich in jede Figur gut hineinversetzen kann und sich über jedes Puzzlestück ihres Lebens und diverse auftauchende Querverbindungen freut. Das Buch ist spannend zu lesen, obwohl gar nicht so viel passiert. Auch die Figur des Tucker Caliban ist gekonnt geschrieben, er bleibt unnahbar und kaum verständlich, irgendwie vage. Das passt dazu, dass Tucker selbst nicht versteht, was ihn antreibt. Vielleicht ist es ihm auch einfach egal und er tut einfach das, was sich richtig anfühlt.

Ich finde, dass das Buch eine wertvolle Aussage enthält, nicht einmal primär zu dem Verhältnis von "Weißen" und "Farbigen", im Großen und Ganzen geht es für mich auch um das Verhältnis von privilegierter Schicht und Unterschicht. Die gesamte farbige Bevölkerung des fiktiven Staates macht es Tucker gleich und wandert aus - und die Weißen bleiben zurück mit viel mehr Land als sie bebauen können und wirtschaftlichen Konsequenzen, die kaum absehbar sind. Einigen besserverdienenden Mitgliedern der Gesellschaft würde es durchaus nicht schaden, einmal darüber nachzudenken, wie es wäre, wenn sie auf z.B. Reinigungskräfte, die gesamte Dienstleistungsbranche verzichten und entsprechende Arbeiten selbst verrichten müssten.

Eines hat mich aber leider gestört: Das Buch hat ein Nachwort, in dem die Lebensgeschichte des Autors von dessen Tochter kurz umrissen wird. Dieses hat mir gut gefallen. Das Vorwort hingegen war nur bedingt nützlich. Zum einen finde ich es nicht zweckdienlich, einen Text mit Spoilern an den Anfang eines Buches zu setzen, obwohl das meistens so gemacht wird. Solche Texte gehören ans Ende. Zum anderen haben mich die ganzen persönlichen Erfahrungen der Autorin des Vorworts mit Kelleys Büchern nicht interessiert. Stattdessen wäre es für deutsche Leser weitaus nützlicher, ein wenig historischen Kontext vermittelt zu bekommen, und zwar systematischer, als es im Buch der Fall war, und nicht so sehr auf den Autor fokussiert, da die entsprechende Zeit je nach Schule kaum behandelt wird. Dafür hätte man auf die biografischen Informationen, die sich mit dem Nachwort der Tochter decken, besser verzichtet. Es ist schlichtweg schade, dass dieses Buch lange in Vergessenheit geraten war. Ohne eine sinnvolle Aufbereitung, die einem möglichst breiten Publikum einen Zugang zum Buch ermöglicht, wird dies allerdings vermutlich nach der Publikation erneut passieren.