Vergessener Klassiker mit Relevanz

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dozzeline Avatar

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„Wie’s aussieht braucht man diesmal zum Weglaufen mehr Mut als zum Bleiben.“

Tucker Caliban, ein junger schwarzer Mann aus der kleinen Stadt Sutton im Süden der USA, brennt seinen Hof nieder, tötet sein Vieh und kehrt mit seiner Familie dem Bundesstaat den Rücken. Ihm folgen innerhalb weniger Tage alle schwarzen Bewohner Suttons. Ratlos beobachten ihre weißen Nachbarn das Geschehen und machen sich ihre ganz eigenen Gedanken…

Mit „Ein anderer Takt“ erscheint dieses Jahr eine Neuauflage von William Melvin Kelleys erstem Roman „A Different Drummer“, der seit seiner Erstveröffentlichung 1962 zunehmend in Vergessenheit geraten ist und dabei leider kaum an Relevanz verloren hat. Dem eigentlichen Roman vorangestellt ist ein kurzes Vorwort von Kathryn Schulz, das das Leben und vor allem das Gesamtwerk Kelleys beleuchtet und den entsprechenden Kontext für die Lektüre liefert.

Mit Sutton schuf Kelley eine relativ durchschnittliche Südstaatenkleinstadt der 60er Jahre. Es existiert eine unausgesprochene Zwei-Klassen-Gesellschaft; die Nachfahren der Sklaven arbeiten zu einem großen Teil noch für dieselben Familien, denen ihre Vorfahren dienen mussten. Das Wort „Nigger“ ist in besseren gesellschaftlichen Kreisen zwar inzwischen verpönt, begegnet dem Leser aber doch alle Nase lang. Auffallend ist, dass die afroamerikanischen Bewohner Suttons mit ihrem „Auszug aus Ägypten“ zwar die Akteure der Geschichte darstellen – erzählt wird diese aber ausschließlich aus Sicht der weißen Bevölkerung, die damit auch die Deutungshoheit über die Ereignisse für sich beansprucht. Geschildert werden die einzelnen Kapitel aus Sicht unterschiedlicher Charaktere, so kommen außer der Familie Willson, für die die Calibans seit Generationen arbeiten, auch die einfachen Männer aus der Stadt zu Wort. Empathisch zeichnet Kelley jeden einzelnen seiner Charaktere. Besonders herausgestochen haben für mich jedoch die Kapitel aus Sicht des achtjährigen Mister Leland.

William Melvin Kelley versteht es, den Leser mit seinem schlichten und doch poetischen Schreibstil zu fesseln. Des Öfteren musste ich beim Lesen eine kurze Pause einlegen, um mir einzelne Sätze noch einmal auf der Zunge zergehen zu lassen. Das Beeindruckendste an diesem Roman ist für mich jedoch die Differenziertheit, mit der Kelley den Rassismus in Sutton zeichnet, der sich während der Erzählung auf einer feinen Linie zwischen subtil und brutal bewegt, und den Leser so immer tiefer in das soziale Gefüge der damaligen Zeit zieht.

Einmal aufgeschlagen hat mich dieses Buch definitiv in seinen Bann geschlagen und bietet auch nach der letzten Seite noch mehr als genug Stoff zum Nachdenken. Absolute Leseempfehlung!