Familienaufstellung auf die etwas andere Art

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camille69 Avatar

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Der Vater ist gestorben und die Familie versammelt sich zur Beisetzung am Grab. Fast jeder kennt eine solche Szene aus eigener Erfahrung irgendwann im Leben und ein ganzes Genre an Filmen und Romanen nutzt dieses Setting als Einstieg in eine Familiengeschichte, in der es in der Folge meist um den Kampf um ein Erbe, Rivalitäten unter Anverwandten oder die Enthüllung manch dunkler Familiengeheimnisse geht.
Im Fall der Ich-Erzählerin liegen die Verhältnisse aber ein bisschen komplizierter, denn dort "am Rand der Grube" im oberhessischen Dorf, aus dem der Vater und die Mutter stammten, hat sich ein ganzes Familienpatchwork versammelt, entstanden zu Zeiten, in denen es den Begriff noch gar nicht gab und die bürgerliche Kleinfamilie die absolute Norm darstellte. Allein das charakterisiert die Mutter Hanna, die schon "so viele Jahre vor ihm (...) gestorben (ist)" (S. 6), als absoluten Freigeist, denn ihre drei Töchter haben drei verschiedene Väter. Laura, die Älteste, steht mit Vater Klaus am Grab, dem ältesten Kindheitsfreund von Hanna. Beider Mütter waren mit ihren Kindern, frisch verwittwet, gegen Ende des Krieges aus Schlesien in besagtes oberhessische Dorf geflüchtet, wo sie in der Schule auf den ein Jahr älteren Peter, später "Papa Bow" genannt , trafen. Bevor dieser irgendwann der Vater der jüngsten Tochter, der Ich-Erzählerin wurde, gingen Hanna, Klaus und Peter zum Studium nach Heidelberg, wo schließlich der schöne Sizilianer Roberto zu ihnen stößt und alle vier zu besten und engsten Studienfreunden werden. Und nicht nur das - Roberto wird auch Hannas Ehemann Nummer zwei und der Vater ihrer Schwester Lotta.
Angesichts dieser Konstellation verwundert also nicht, dass die Ich-Erzählerin erst einmal selbst darüber nachdenken muss, wen sie eigentlich meint, wenn sie von "Familie" spricht, und das gesamte erste Kapitel ausholen muss, um die komplizierten Familienverhältnisse aufzudröseln.

Dass die Töchter mit dem unkonventionellen Lebensstil ihrer Mutter so ihre Probleme hatten, wird allein bei der Schilderung der Meinungsverschiedenheiten um deren letzten Willen, ihre Asche mit Blei vermischt als Flaschenpost auf dem Grund der Ostsee beerdigt zu wissen, deutlich. Während die Ich-Erzählerin darin ein "dauerhaftes unsichtbares Denkmal" erkennen und diesen letzten Willen der gemeinsamen Mutter auf jeden Fall respektieren will, sieht die älteste Schwester darin nur eine weitere Exaltiertheit der Mutter und regt sich gemeinsam mit ihren Kindern über die vermeintliche mangelnde Nachhaltigkeit dieses Beisetzungswunsches auf.
An dieser Szene wird beispielhaft deutlich, dass es in Familien nie nur um Sachfragen oder die Auseinandersetzung mit den Eltern geht, sondern immer auch um eingefahrene Muster und zugeschriebene Rollen. So ist sich die Protagonistin vollkommen im Klaren, dass ihre älteste Schwester sich allein deshalb gegen den letzten Willen der Mutter aussprechen muss, weil sie als die Jüngste ihn befürwortet ... viel Arbeit für eine Familientherapie ... und so mache/r Leser/in erkennt eigene Familienszenen und -diskussionen wieder.

Wie in jeder Familie scheinen die Rollen fest verteilt - “Hanna hat einen Platz in der Familienhistorie als die Verrückte,
die sich viel zu weit aus dem Fenster gelehnt hat, in jeder Hinsicht." (S. 18). Daneben gibt es "Papi", den im Krieg gefallenen Großvater, den keines der Kinder und Enkel je gekannt hat, der aber durch die Erzählungen der Großmutter umso lebendiger in der Familiengeschichte gehalten wird. Dazu Geschichten vom Glück - die Geschichte, wie Peter und Hanna nach gescheiterten Ehen schließlich in Berlin zueinander finden, zählt sicher dazu - und vom Scheitern (ein "fehlender Raum" für Hanna im doppelten Sinne des Wortes).

Caroline Peters hält dieses erste Kapitel in einem plaudernden Ton und man könnte sich fast vorstellen, mit einer guten Freundin bei einem Glas Rotwein zu sitzen und mit ihr gemeinsam auf die komplizierten Verwicklungen ihrer Familie und von Familien überhaupt zu schauen. Und obwohl das, wie bei einer Familienaufstellung, erst mal überhaupt nichts mit dem eigenen Leben zu tun hat und da die Probleme fremder Leute verhandelt werden, folgt man der Schilderung doch gebannt, weil man, wie bei einer Familienaufstellung, dennoch sofort Eigenes erkennt - die Streitereien mit der eigenen Schwester, die Exaltiertheit der eigenen Mutter, Bündnisse zwischen Familienmitglieder, bei denen man sich selbst ausgeschlossen fühlt, Familienerzählungen, die über Jahrzehnte quasi wortwörtlich tradiert werden und zum Selbstbild, zum Familienmythos gehören ...

Man darf daher mehr als gespannt sein, wie sich die Patchwork-Familie nach dieser Beerdigung neu zusammenrüttelt, welche neuen Konflikte entstehen oder gar Geheimnisse enthüllt werden und welches "andere Leben" sich da zeigen wird, das der Titel verspricht ... und ob die Seifenblase, die eine junge Frau im angedeuteten Popart-Stil da auf dem Cover bläst, am Ende zerplatzte Träume und Illusionen sind?!?