Besonderer Erzählstil, tiefgründiger Roman

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„Die Macht, die die Erzählungen der Eltern auf die Wirklichkeitsauffassung des Kindes haben, ist so groß, dass es fast unmöglich ist, sich davon zu befreien.“ (S. 73)

Bergljot, die Protagonistin in „Ein falsches Wort“ von Vigdis Hjorth, ist die zweite von vier Geschwistern. Sie hat den Kontakt zu ihnen – zu Bård, Astrid und Åsa – und ihren Eltern vor vielen Jahren abgebrochen, und auch Bård hat sich zurückgezogen. Seitdem hat Bergljot nur sporadischen Kontakt zu ihrer nächsten und viel jüngeren Schwester Astrid, die ihren Eltern und ihrer jüngsten Schwester Åsa sehr nahe steht. Als der Vater stirbt und das ungleich verteilte Erbe zur Sprache kommt, das Bergljot eigentlich nicht interessiert, stellt sie sich auf die Seite ihres älteren Bruders Bård, der Gerechtigkeit fordert.

Und mit dem wiederauflebenden Kontakt kommen auch die Erinnerungen zurück. Da ist die Kindheit mit Bård und ihren Eltern, sie als Fünfjährige, der wissende Löwe, die Schwäche und die Manipulation, die Verleugnung und über allem die ständige Sehnsucht nach der Anerkennung ihrer Geschichte ❤️‍🩹

„Hätte Mutter sich entschieden, erwachsen zu werden, wäre die Wirklichkeit für sie nicht zu bewältigen gewesen.“ (S. 177)

Ich muss zugeben, dass ich anfangs ein paar Seiten gebraucht habe, um mich an den besonderen Erzählstil von Vigdis Hjorth zu gewöhnen. Dann aber, schneller als ich gucken konnte, habe ich mich in ihn verliebt. Ähnlich ist es mir auch mit dem Erzähltempo ergangen. Zu Beginn wird langsam und fast zögerlich erzählt, alles ist noch recht abstrakt, wird verdrängt, aber je mehr Kontakt Bergljot zu ihrer Ursprungsfamilie hat und je wütender sie dadurch wird, desto mehr kommt an die Oberfläche und nimmt die Geschichte an Fahrt auf.

„Ein falsches Wort“ hat mir schon beim Lesen gefallen und jetzt, etwa zwei Wochen später, kann ich sagen: Der Roman hallt nach und hat sich in mein Herz geschlichen. Es ist die Unwissenheit über das Geschehene bis zur Mitte des Romans, die verschiedenen Perspektiven, die Vielschichtigkeit, die Sehnsucht nach Anerkennung und Versöhnung, das Kappen toxischer Beziehungen, das Einstehen für sich selbst und als wäre das alles nicht genug, die unvergleichliche Sprache, die „Ein falsches Wort“ für mich so lesenswert machen. Und dann ist es auch noch so verdammt klug! 😍

„Ein falsches Wort“ von Vigdis Hjorth wurde von Gabriele Haefs wunderbar aus dem Norwegischen übersetzt und ist ganz frisch bei S.Fischer erschienen. Ihren zuvor erschienenen Roman „Die Wahrheiten meiner Mutter“ möchte ich nun auch unbedingt lesen.

Vielen Dank an S.Fischer und Vorablesen für die Bereitstellung des kostenlosen Rezensionsexemplars!