erschütternde Einblicke in ein familiäres Beziehungsgeflecht

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reiselust Avatar

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Ausgangspunkt dieses Romans der norwegischen Schriftstellerin Vigdis Hjorth ist die Absicht eines Elternpaares, zwei Sommerhäuser, in denen die Familie viele glückliche Tage erlebt hat, zwei jüngerenTöchtern im Wege der Erbfolge zu vermachen. Bergljot, Ich-Erzählerin in diesem Roman und älteste Tochter, und ihr Bruder sollen insoweit leer ausgehen, so haben es die Eltern geplant.

Was wie ein Streit ums Erbe anfängt, spaltet die Familie weit über die Frage nach einem gerecht verteilten Nachlass hinaus. Was die Autorin hier entwirft, ist ein regelrechtes Psychogramm der ältesten Tochter Bergljot. In nüchterner Sprache wird in kurzen, unnumerierten Kapiteln die Geschichte der Familie aus der Sicht Bergljots erzählt. Ich habe diesen Roman während der Osterzeit gelesen und er hat auf mich zeitweise wie eine Passionsgeschichte gewirkt. Die Ich-Erzählerin, fast sechzig Jahre alt, ist selbst Mutter dreier erwachsener Kinder, geschieden, beruflich erfolgreich und finanziell unabhängig. Eine gestandene Frau, so könnte man meinen. Doch die Art, wie sie von sich, ihrer Kindheit und ihren Konflikten mit Eltern und Geschwistern berichtet, zeigt, dass hier ein traumatisierter, ein bis ins Erwachsenenalter leidender Mensch spricht.

Der Vater stirbt und bei Bergljot kommen traumatische Ereignisse aus ihrer Kindheit hoch. Sie, die den Kontakt zur Familie vor Jahrzehnten abgebrochen hatte, nimmt den Kontakt zu den Geschwistern und zur Mutter mehr oder weniger notgedrungen wieder auf, ihre Anwesenheit bei der notariellen Testamentseröffnung ist erforderlich.

Langsam entfaltet sich vor dem Leser, was Bergljot in ihrer Beziehung zur Familie umtreibt, warum sie mit ihr gebrochen hat. Einzig durch die Perspektive Bergljots dringt man in das Familiengeflecht ein.
Langsam entwirren sich die Fäden, in die alle verstrickt zu sein scheinen. Langsam ist überhaupt ein Stichwort, denn Bergljot schildert minutiös alltägliches, wiederholt Gedanken, Erlebtes, fast wie in Endlosschleife. Das ist anstrengend zu lesen, langweilte mich trotzdem nicht, sondern entwickelte einen Lesesog, der mich quasi in den Kopf oder die Seele Bergljots hineingesaugt hat. Der Leser in der Rolle des allerdings hilflosen Therapeuten, vor ihm liegt Bergljot.

Es geht um traumatisierende Kindheitserfahrungen und die Anerkennung dessen, was passiert ist von der eigenen Familie, insbesondere von der Mutter und von den jüngeren Schwestern. Es geht um die Auswirkungen des Fehlverhaltens einer Person auf das Familiengefüge und auf den Zusammenhalt einer ganzen Familie. Dem konnte ich mich schwer entziehen, zu drängend die Fragen danach, ob Bergljot endlich Frieden finden wird, wird ihr Leiden von der Familie anerkannt oder bleibt es hier bei einer lebenslangen Lüge ?

Ein schockierender Einblick in eine zerstörte Familie, die insbesondere die fatale Rolle der Mutter Bergljots beleuchtet, die sich, finanziell abhängig von ihrem Mann und abhängig von der möglichen Außenwirkung der Wahrheit auf ihr eigenes Leben, nicht emanzipieren kann.

Ein großartiger Roman, den ich allen, die harte Themen nicht scheuen, nur empfehlen kann.

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